Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

zu. »Da drüben, das ist der Physiker Hermann Haken. Seltsamerweise hat er nie den Nobelpreis bekommen, obgleich er uns den Laser erklärt hat. Dessen Erfinder hatten ihn nämlich für einen Lichtverstärker gehalten, bis Haken zeigen konnte, dass er das Ergebnis von Selbstorganisation des Lichts ist. Irgendwo muss hier auch … ja, da drüben, der mit der Brille, das ist der große Linguist Avram Noam Chomsky aus den USA .«
    »Die generative Transformationsgrammatik«, lachte Finley. »Was hat man ihn gehasst dafür! Aber heute weiß die moderne Hirnforschung, dass er recht hatte damit, dass die Sprachregeln in unseren Köpfen tatsächlich anders strukturiert sind als in einer Grammatik. Wir formen sie so um, dass wir mit einer minimalen Anzahl von Regeln eine große Anzahl von Sätzen bilden können. Ganz schön mutig, ihn einzuladen.«
    »Wieso?«, fragte ich.
    »Er hat so ungefähr alles kritisiert, was die USA an Außen- und Kriegspolitik betrieben haben und betreiben, angefangen beim Vietnamkrieg bis hin zum Irakkrieg«, erklärte Richard. »Er hat zwar zur Wahl von Obama aufgerufen, aber ob er das heute noch so sieht …«
    Tatsächlich saßen Obama und Chomsky an diametral entgegengesetzten Enden der vier Tafeln.
    Nach dem Essen versammelte man sich mit Getränken in einem Zimmer mit Kamin. Dem Raum fehlte allerdings sowohl die altenglische Clubatmosphäre als auch die klassizistische amerikanische Gediegenheit, was Sarkozy zu Spott über die schweizerische Demokratie provozierte. Unnötig zu sagen, dass sich die Staatsoberhäupter am Kaminfeuer einrichteten, wobei der kleine Mann, der schon während des Essens mehrmals mit dem Handy am Ohr aufgestanden und hinausgerannt war, irgendwie der Gelackmeierte war. Ich habe immer vergessen, Richard zu fragen, wer das war. Und jetzt ist es nicht mehr wichtig.
    Der Generalsekretär Reto Federer sprach eine Begrüßung und lud zu interessanten Gesprächen und einem ergebnisreichen Gedankenaustausch ein. Die erste Stunde moderierte er, denn es ging vor allem darum, dass all die versammelten Alphatiere sich reden hörten. Hinten bröckelte die Gemeinde bald in Richtung Raucherzimmer.
    Wann auch Richard verschwand, bekam ich nicht mit.
    *
    Er ging nicht ins Raucherzimmer, sondern stieg das Treppenhaus der Angestellten bis in den vierten Stock hinauf. Reto Federer hatte ihm bei einem Telefonat unabsichtlich verraten, dass er von ganz oben unterm Dach über den schönen See blicken konnte.
    Die Tür des Büros war nicht abgeschlossen. Andernfalls hätte er mich geholt, in der Hoffnung, dass ich mein Pickset dabeihatte. Richard empfand nicht die geringste Scheu, die Klinke hinunterzudrücken und einzutreten. Hier ging es nicht um gerichtsverwertbare Informationen. Die Wartegg-Konferenz würde nie angeklagt werden. Und schon gar nicht von ihm.
    Der schwarze See mit seinen Lichträndern stand feierlich im Fenster. Er verschwand, als Richard Licht anmachte. Er schaute sich kurz um – Schreibtisch, Telefon, Ablage, Computer, Drucker, Aktenschränke – und wandte sich den Aktenschränken zu. Die Protokolle der Konferenzen waren nach Jahren sortiert in Ordnern abgeheftet. Richard zog den von vor drei Jahren heraus und studierte die Gästeliste. McPierson fand er nicht, wohl aber Rosenfeld, Groschenkamp und Bodnang. Ein Jahr vor der ersten großen Bankenkrise war es um die Macht des Spirituellen gegangen. Beschlüsse wurden generell nicht protokolliert. Aber Rosenfeld hatte die schriftliche Fassung seines Referats über Telekinese dagelassen, gefüllt mit Beispielen, angefangen beim träumenden Computer über die Rache des Schachcomputers bis hin zu einem Börsencrash vor zehn Jahren, bei dem der Computerhandel auf nicht restlos erklärbare Weise außer Kontrolle geraten war. Seine These war, dass hochkomplexe und zudem sehr dynamische Systeme wie die elektronischen sich am besten eignen, von einem Psi-Agenten manipuliert zu werden. Das Referat schloss mit den Worten, dass Wirtschaft und Politik dringend mehr Geld für die Psi-Forschung bereitstellen müssten, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, dass unsere Börsen und computergestützten Finanzsysteme oder auch die immer komplexer werdende Elektronik in Flugzeugen, Schiffen und Privatfahrzeugen eines Tages von einer Einzelperson oder einem Staat gezielt angegriffen würden.
    Das war die Bestätigung. Das Kalteneck-Experiment war aus der Wartegg-Konferenz hervorgegangen. Groschenkamp und Teile der Industrie hatten es als