Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
Auftreten in Leder und Narbe nur, weil sie Richard vertraute. Vielleicht auch, weil sie mich aus den Medien kannte.
    »Gibt’s was Neues von der Geiselnahme?«, fragte ich. »Wir haben nicht Radio gehört auf der Fahrt. Ich vertrage die geballte Aufregung nicht mehr.«
    Sie lächelte kompliziert. »Nein, nichts. Aber ich kann auch bloß Fernsehen gucken. Man bemüht sich, das Ultimatum zu verlängern. Einige Kinder sollen Sprenggürtel tragen, die hochgehen, falls das Kloster gestürmt wird.«
    Das war der Stand von gestern. Aber es war typisch für diese Tage, dass wir uns alle genau das erzählten, was wir aus Radio, Fernsehen, Zeitungen und Internet wussten.
    Der Untersuchungshäftling warte bereits im Vernehmungsraum, fuhr sie fort. Es sei sichergestellt und sie verbürge sich auch dafür, dass unser Gespräch nicht mitgehört werde. Ob wir beide mit dem Beschuldigten sprechen würden?
    »Nein, nur ich.«
    »Sie wissen, dass Sie mit einem Untersuchungshäftling nicht über ein laufendes Verfahren sprechen dürfen.«
    »Ja«, sagte ich.
    Die Generalin verabschiedete sich und verschwand den Gang hinunter in der Sinfonie von Grautönen. Christoph ging eine oder zwei rauchen. Ein Beamter brachte mich zum Vernehmungsraum. Er war klein, das Fenster vergittert. Die verspiegelte Glasscheibe, die ich aus anderen Vernehmungsräumen kannte, fehlte. Ich bin sicher, es gab Kameras in den Lampenlamellen an der Decke, aber ich sah sie nicht. In einer Ecke stand ein Tisch für die Protokollantin. Er war leer. In der anderen Ecke stand ein uniformierter Polizist.
    Juri Katzenjacob saß breitbeinig am Tisch und dachte nicht dran, die Knie zusammenzuziehen, als ich eintrat. Hätte ich auch nicht getan, wenn man mir die Hände geschlossen hätte, immerhin vorn wie zur Gerichtsverhandlung.
    »Würden Sie ihn bitte aufschließen«, forderte ich den Polizisten auf.
    »Das darf ich nicht.«
    »Wem soll ich sagen, dass man Sie anrufen und Ihnen die Anweisung erteilen soll? Der Generalin oder der Bundeskanzlerin?«
    Nachdem ich ihn dann noch überzeugt hatte, dass er auch nicht anwesend sein durfte, um mich zu schützen, falls Juri gewalttätig wurde, war ich mit dem Malergesellen allein.
    Der Bursche hatte sich inzwischen normal hingelümmelt und die Unterarme auf den Tisch gelegt. War ja auch eine gute Show gewesen, die ich ihm geboten hatte. Ich setzte mich ihm gegenüber, stellte in der Brusttasche meiner Jacke die als Kugelschreiber getarnte Filmkamera mit Mikro an und legte gleichzeitig, um ihn abzulenken, eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch. Er nahm sich eine, ich gab ihm Feuer.
    »Ich heiße Lisa«, sagte ich. »Ich bin Journalistin. Wir haben uns schon mal gesehen.«
    Er hob die Hand und formte eine Pistole: »Peng!«
    »Übrigens bin ich vor beinahe einem Jahr wirklich angeschossen worden.«
    Er lächelte halb. »Ja, ich weiß.«
    »Woher?«
    »Daher.« Er schaute mich herausfordernd an. Seine blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Er war schmal geworden und verglichen mit den Fotos aus den Zeitungen um Jahre gereift. Seine Arme waren mit dicken Muskeln bepackt. Offenbar verbrachte er viel Zeit im Kraftraum. »Ich weiß so etwas«, sagte er. »Ich habe das zweite Gesicht. So nennt man das doch.«
    »Ich bin an der Totensteige gewesen, wo deine Adoptiveltern ums Leben gekommen sind.«
    Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gegen die Decke. Der Stängel zwischen seinen Fingern zitterte leicht. »Und, was hast du da gesehen?«, fragte er schließlich.
    »Eine Straße.«
    Er schwieg und rauchte.
    »Weißt du übrigens, warum ich nicht gestorben bin, als der Kerl vor einem Jahr auf mich geschossen hat?«
    Sein Blick kam zu mir zurück. »Will ich’s überhaupt wissen?«
    »Weil ich stärker bin als die andern, als die Leute, die du kennst, als deine Eltern zum Beispiel. Und als Rosenfeld und Desirée, als Héctor oder Pio Janssen.«
    Beim letzten Namen runzelte er die Stirn.
    »Und als die drei Rumänen, die dich befreien sollten.«
    Er zuckte mit den Brauen. »Was soll das werden? Ein Verhör?«
    »Ich bin nicht von der Polizei. Das weißt du. Und ich weiß, dass du Rosenfeld umgebracht hast.«
    Er zog an der Zigarette. »Ohne Anwalt sage ich nichts.«
    »Du wirst sterben, Juri.«
    »Klar, irgendwann stirbt jeder.«
    »Aber du stirbst heute Abend, spätestens morgen.«
    Er lächelte. Dazu zog er die Mundwinkel herab, nicht nach oben. »Haltet ihr es nicht mehr aus? Wollt ihr mich verbrennen wie eine Hexe auf dem

Weitere Kostenlose Bücher