Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
einem Artikel über den Voodoo-Tod beschrieben. Er vertritt die Ansicht, der Tod des Verurteilten sei das Ergebnis einer Reaktion des sympathischen Nervensystems. Du kennst das als Stress. Adrenalin wird ausgeschüttet, der Herz klopft, der Atem geht tiefer.«
»Die Fight-or-flight-Reaktion.«
»Exactly. Nur dass ein Mensch unter dem Todesbann nicht weiß, wogegen er kämpfen, wovor er fliehen soll. Das bringt ihn um. Ein Psychologe vertrat später die Ansicht, der plötzliche Tod sei ein Ergebnis absoluter Hoffnungslosigkeit. Der Wille zum Weiterleben geht verloren. Dafür sei das parasympathische Nervensystem verantwortlich. Es beruhigt und blockiert, insbesondere der Vagus-Nerv, der unseren Herzschlag bremst. Man nennt es darum den Vagus-Tod. Ich denke, es ist beides. Totaler Stress und völlige Hoffnungslosigkeit. Das sympathische und das parasympathische Nervensystem schlagen sich gegenseitig tot. Den Wechsel zwischen Stress und Depression halten Herz und Kreislauf nicht lange aus. Wir kennen das von Menschen, die lange erfolgreich gegen einen Krebs kämpfen. Dann sagt ihnen der Arzt, dass sie austherapiert sind. Eine halbe Stunde später können sie sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen. Sie legen sich hin und sterben innerhalb von zwei Tagen.«
»Hm.«
»Und noch etwas kommt hinzu. Sobald das stimulierende und das beruhigende Nervensystem aus dem Tritt kommen, setzt auch das rationale Denken aus. Logik greift nicht mehr. Du kannst dem Mann nicht sagen, dass er spinnt, dass er einer Suggestion erliegt. Last but not least blockiert Stress den Stoffwechsel. Man kann nichts mehr essen, nichts trinken. Man verdurstet. In Australien ist ein Fall aus dem Jahr 1978 dokumentiert. Ein Verurteilter starb innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Allerdings ist nicht eindeutig geklärt, ob der Mann nichts mehr trinken konnte oder ob ihm die Gemeinschaft das Wasser vorenthalten hat.«
»Auch deshalb hatte der indische Tantrik keine Macht über dich. Er konnte dich aus seiner Gesellschaft nicht verstoßen, denn du gehörst in eine andere.«
»Guter Gedanke, Lisa! Aber ich kenne Europäer, die haben panische Angst vor dem Boning. Vor einigen Jahren haben wir im Institut eine Frau behandelt, die meinte, ein australischer Ureinwohner habe mit einem Knochen auf sie gezeigt und sie müsse jetzt sterben. Es ging ihr schlecht, sie war schwach und abgemagert, sie konnte nicht schlafen, nicht essen. Wir haben ihr erklärt, wie das physiologisch funktioniert. Aber das hat überhaupt nichts geholfen. Also habe ich mir mein Zaubererkostüm angezogen, einen großen Hokuspokus gemacht und einen Gegenzauber gesprochen.« Er lachte. »Sie stand auf und war geheilt.«
»Hätte Rosenfeld dem Tantrik auch standgehalten?«
»Oh! Warum fragst du mich das? Gabriel wurde von einem perversen Jungen getötet und aufgeschnitten. Oder nicht?«
Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig, dass ich Finley nicht verraten durfte, was Richard mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte. »Aber …« Ich überlegte ausflüchtig. »Die Frage, die sich mir stellt ist … äh … warum hat er sich nicht gewehrt?«
»Vielleicht ist er überrascht worden.« Finley konnte auch sehr ernst werden. »Deine Frage hat einen guten Grund, nicht wahr? Nun, jeder Mensch hat seinen ganz eigenen point of breakdown. Oft kennen wir ihn nicht, bis es so weit ist. Gabriel war ein grandioser Wissenschaftler. Als Physiker hat er uns insgesamt ein gutes Stück weitergebracht, weil er Psi-Phänomene mit Modellen der Quantenphysik erklären konnte. Aber ich war mir bei ihm nie ganz sicher, ob er nicht zu denen unter uns gehört, die davon träumen, eines Tages den fliegenden Teppich zu entdecken, das von ihm zweifelsfrei wissenschaftlich belegte Spukereignis auf Makro-Ebene.«
»Du meinst, er glaubte?«
»Vielleicht hat er es für sich offengelassen. Was im Grunde nichts anderes ist als Glaube, isn’t it?« Sein Blick schwenkte weg. »Ah, wir legen gleich an!«
In der Touristeninformation des kleinen, schwarz gesteinten Ortes namens Baile Mór besorgte man uns ein Doppel- und zwei Einzelzimmer im St. Columba Hotel. Derya war erleichtert zu wissen, wo sie ihr in Edinburgh gekauftes Köfferchen mit Inhalt hinrollen durfte. Reisen ist doch eigentlich purer Stress. Essen wir gleich oder später, hier oder woanders? Darf ich vorher duschen? Sollten wir erst die Abtei besichtigen, gibt es einen Föhn auf dem Zimmer? Meine einzige Frage an die Rezeptionistin
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