Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
und fing noch mal an. »Er wollte in den Pub.«
»In welchen?«
»The Martyr’s Bay«, antwortete Richard. Täuschte ich mich, oder hörte ich doch ein winziges Knickern in seiner Stimme.
»Wir müssen ihn holen. Sofort!«
Ich stach los. Sie hatten keine andere Wahl, als mir zu folgen. Sie taten es schweigend und einen halben Schritt hinter mir. Er wäre dran gewesen, mich zu fragen, was das sollte. Sie sah keine Veranlassung dazu. Mochte auch sein, dass sie sich nicht traute. Vermutlich dachte sie, es sei seine Sache, mich zu bändigen. Damit er meine Ohrfeigen abbekäme, nicht sie.
Nachts hatte selbst Baile Mór viele Straßen. Ich blieb stehen und stampfte unwillkürlich mit dem Fuß auf. »Verdammt, wo ist das?«
»Warum die Eile?«, fragte Derya.
Wie erklärte ich das diesen begriffsstutzigen Heinzen?
»Die Polizei …«
Motorgeräusche kamen auf einmal vom schwarzen Sund her. Zwei Boote näherten sich mit Lichtern und bösem Hummelgebrumm.
»Da kommt sie schon! Sie wollen …« Mir wollte Richards Name nicht über die Lippen kommen. »… den da verhaften. Er wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. So steht es in der Zeitung. Und ihr – du, Derya, und Finley – ihr seid in den South Bridge Vaults erschossen und in den Brunnenschacht geworfen worden. Und jetzt suchen sie den da. Seine Genspuren sind am Brunnendeckel. Und die Presse ist auch schon hier, um Fotos von der Polizeiaktion zu machen. Nämlich dort.«
Ich hatte, während ich redete, im Schatten des Insel-Shops das Pärchen von den Edinburgh Evening News entdeckt. Er richtete das schwarze Auge des Teleobjektivs auf uns.
»Aber …« Derya blickte sich entrüstet zu Richard um.
Doch der sagte nichts, sondern lief los – die Karte des verdammten Kaffs im Kopf – runter zum Hafen. Licht und Lärm einer Kneipe fielen auf die Straße, ehe die Tür sich wieder schloss.
Die grünen und roten Positionsleuchten der schnellen Motorboote flogen über die Wellen auf den Anleger zu. Sie sahen wirklich nach Polizeibooten aus.
Ich nahm Derya am Arm und zog sie in den Schatten der Querstraße.
»Ich verstehe nicht«, protestierte sie. »Das klärt sich doch gleich auf, wenn die Behörden feststellen, dass Finley und ich noch leben. Au, du tust mir weh!«
Da hatte ich wohl etwas zu fest den damenhaft muskellosen Arm geschraubt. »Sei froh, dass ich dir nicht den Hals umdrehe!«
»Ach, doch eifersüchtig? So kann man sich irren. Du seist nicht eifersüchtig, hat er gesagt. Es sei dir gleichgültig. Außerdem hättest du ständig Affären mit … mit Weibern!«
Das hatte er ihr erzählt? So privat waren sie geworden, vor allem er? Und so abfällig?
»Und er …« Sie riss sich los. »Er hat deine Kindereien gestrichen satt, verstehst du, er hat die Faxen dicke! Merkst du das nicht? Nein, du bist viel zu selbstbezogen und egoistisch. Du interessierst dich für niemanden außer für dich selbst. Allein schon wie du dich anziehst. Eine einzige Verkleidung!«
Sie schlenkerte den befreiten Arm und marschierte stramm die Straße hinunter. Doch Richard und Finley kamen ihr schon entgegen. Richard nahm Derya am Arm, eigentlich eher an der Hand, und brachte sie wieder mit.
Finley keuchte. »Was ist das? How funny, wir sind tot, höre ich? Und sie wollen Richard als Mörder verhaften?«
Die Bootsmotoren wurden gedrosselt, die Bugwellen verloschen, die Bugspitzen senkten sich, die Boote glitten an den Anleger. Ich zog mich ein paar Schritte in die Querstraße zurück, um vom Pier aus nicht sichtbar zu sein. Die anderen folgten wie gezogen. Gleichzeitig flammte auf der anderen Seite vor dem Laden Blitzlicht auf. Drei, vier Mal. Richard, Derya und Finley erschraken.
»Nichts wie weg hier«, raunte ich ihnen zu und gab Richard Cipións Leine. »Los! Immer die Straße entlang. Ich komme gleich nach.«
Ob sie mir Folge leisteten oder nicht, war mir momentan egal. Ich sprang über die Straße, direkt ins Teleauge hinein. Das Mädchen wich zurück und stolperte. Ich bekam das Rohr zu fassen, riss dem Burschen die Kamera vom Hals, schneller, als er japsen konnte, und schleuderte sie in die Landschaft. Sie zerschellte auf dem Asphalt der Straße.
»He!«, rief er.
»Keine Bilder!«, fuhr ich ihn an. »Und wenn ich euch noch einmal sehe, dann …« Ich zeigte ihm das Anglermesser, das ich erst vor ein paar Stunden genau in diesem Laden gekauft hatte.
Er wich zurück. Die junge Frau dagegen streckte ihre Hand aus, darin eine Karte. »Lass uns
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