Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
Einfluss. Oft überanstrengte er sich im Traum und musste am nächsten Morgen dafür büßen. Heute jedoch schien alles in bester Ordnung zu sein. Nicht einmal beim Aufstehen spürte er seine Glieder.
Barfuß trat er an das leere Bett und betrachtete die jungfräuliche Decke. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug er sie zurück. Es lag nichts darunter. Wie sollte es auch? Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er wollte die Decke eben sinken lassen, als er auf etwas trat. Er hörte das quatschende Geräusch und fragte sich, ob er die fallsüchtige Eidechse vielleicht von ihrem Elend erlöst hatte, doch es war nur eine Beere. Sie musste aus der Obstschale
auf dem Tisch gekullert sein. Er inspizierte die kleine rote Frucht. Obwohl er die Sorte schon oft gesehen hatte, wusste er nicht, wie sie hieß. Noch vor ein paar Jahren hätte er sie achtlos aus dem Fenster geworfen. Inzwischen jedoch wusste er, dass nichts ohne Bedeutung war, dass alles mit allem zusammenhing. Es gab keine Zufälle. »Schau und sieh.« Er wickelte die Beere in ein Stück Küchenpapier von der Rolle auf dem Tisch und verstaute sie in seiner Tasche.
Siri selbst hatte Herrn Geung von seinen Abenteuern in Luang Prabang erzählt. Es war ein Ort unter vielen, ebenso wie Paris, Frau Kits Besen- und Bürstenfabrik oder der Mond. Für Herrn Geung waren das nichts als Worte. Er verspürte weder den Drang noch die Notwendigkeit, dorthin zu reisen. Er hatte seine eigene kleine Welt und brauchte keine andere. Und so war er auch nicht sonderlich erfreut oder gar beeindruckt, als der Konvoi in der Provinz Luang Prabang eintraf. Die Fahrt in der alten Klapperkiste war für sie alle, insbesondere jedoch für Geung, eine Tortur gewesen.
Er hatte jegliche Hoffnung aufgegeben. Die neuen Reize, die unablässig auf ihn einstürmten, überforderten ihn völlig, und so saß er wie befohlen auf der schmalen Holzbank und starrte verwirrt auf die vorbeiziehende Landschaft, ein grandioses Gebirgspanorama, wie er es in seinem doch recht reduzierten Leben noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Immer wenn sie haltmachten und die Soldaten vom Transporter kletterten, um ihre schmerzenden Glieder zu dehnen und zu strecken, folgte Geung ihnen zum Wasserlassen in den Wald. Inzwischen war er so wortkarg und gefügig, dass die Soldaten ihn eher wie einen Seesack behandelten
denn wie einen Gefangenen. Er hievte sich von der Ladefläche, und sie verfrachteten ihn in eine Ecke. Sie führten ihn zum Messzelt oder zu den Kojen. Wohin sie ihn auch stellten, sie wussten, dass er noch dort sein würde, wenn sie ihn brauchten. Sie schenkten ihm so wenig Beachtung, dass sie ihn bei ihrer Ankunft in der Kaserne von Xieng Ngeun längst vergessen hatten.
Der Feldwebel stürzte die hölzernen Stufen hinauf und klopfte an den Rahmen der offenen Tür des Offizierskasinos. Ohne eine Antwort abzuwarten ging er hinein und trat vor seinen Vorgesetzten, der das Mitteilungsblatt der Lao Huksat studierte.
»Hauptmann Ouan?«
»Was gibt’s?«
»Der Schwachkopf.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wohin?«
»Das, äh, das wissen wir leider nicht genau. Als die Transporter ankamen, war er nirgends zu finden.«
Der Hauptmann warf seine Zeitung beiseite. »Sie sollten doch ein Auge auf ihn haben.«
»Ja. Bitte vielmals um Entschuldigung. Er ist nach jeder Rast auf den erstbesten Transporter gestiegen. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass er ständig woanders herumlungerte.«
»Soso. Gewöhnt. Wann wurde er zuletzt gesehen?«
»Kurz vor Xieng Ngeun, als wir anhielten, um Kaninchen zu schießen.«
Der Hauptmann seufzte. »Nun ja, sehr weit wird er wohl nicht gekommen sein. Unteroffizier? Fahren Sie die Strecke mit dem Jeep ab, und suchen Sie ihn.«
»Jawohl, Herr Hauptmann.« Er salutierte und wandte sich zum Gehen, drehte sich in der Tür aber noch einmal um. »Eigentlich bin ich Feldwebel, Herr Hauptmann.«
»Jetzt nicht mehr.«
6
DIE AMATEURDOLMETSCHERIN
Der Pathet-Lao-Fahrer stand Siri für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung. Um acht Uhr morgens hielt der Jeep vor dem neuen Bezirkskrankenhaus in Xam Neua. Noch vor vier Jahren war die Hauptstadt der Provinz Houaphan eine einzige große Schutthalde gewesen. Zwölf Jahre Bombenkrieg hatten kein Haus unversehrt gelassen. Zwar hatten die Fliegerleitoffiziere von Air America die Angriffe ferngesteuert und die Bomber ins Zielgebiet gelotst, doch den Finger am Drücker hatten vor allem laotische und
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