Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
die Handflächen aneinander und deutete einen höflichen nop an.
»Also, ich weiß ja nicht, woher du kommst und was du im Schilde führst, aber Manieren haben sie dir beigebracht.« Sie betraten ihre aus massivem Holz gebaute Hütte. Hier wohnte der Verwalter der Kiefernschonung, durch die Geung am ersten Tag seiner Flucht gewandert war. »Setz dich erst mal und zieh deine Plastikschuhe aus. Wenn du damit bis nach Vientiane läufst, bist du nämlich nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Krüppel.«
»Danke, M… M…«
»MADAME!«, schrien die Kinder, als sei der Zirkus in der Stadt.
»Mutter«, sagte Geung und grinste die Mädchen mit schiefen Zähnen an.
Dtuis erster Arbeitstag im Krankenhaus bei Kilometer 8 verlief chaotisch. Sie konnte nichts dafür. Chaos war dort der Normalzustand. Schon nach einer Stunde hatte sie
alle Hoffnung fahren lassen. Von den sechs Pflegern und Schwestern hatten zwei keinerlei medizinische Kenntnisse. Der erfahrenste Pfleger hatte ein halbes Jahr in einem Feldlazarett in Vietnam gearbeitet. Mit ihrer zweijährigen Schwesternausbildung avancierte Dtui im Nu zu ihrer Generalstabsärztin. Sie überließen ihr sämtliche Entscheidungen und fügten sich gehorsam ihrem Urteil. Dtuis Vertrauen in ihre Entscheidungsfähigkeit war nicht allzu groß. Sie hatte sich noch nie in einer so aussichtslosen Lage befunden.
Die meisten der rund fünfzig Patienten waren bombi -Opfer. Die bombi war mit das grausamste aller heimtückischen Kriegswerkzeuge. Flieger warfen mit baseballgroßen bombis gefüllte Behälter ab. In der Luft öffneten sich die Behälter, und die bombis regneten auf das Angriffsziel herab. Beim Aufprall explodierten sie, und zweihundertfünfzig glühend heiße Kugellager flogen nach allen Seiten und zerfetzten Menschen und Gebäude gleichermaßen. Manche bombis waren mit einem Verzögerungszünder ausgestattet und töteten die Überlebenden, die ihre Lieben retten wollten. Wieder andere lauerten Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre im Verborgenen, bis sie den Unschuldigen und Unwissenden eine tödliche Überraschung bereiteten. Die bombi kümmerte es nicht, wer ihnen zum Opfer fiel. Ob es einen Büffel oder ein Schwein, ein Kind oder eine junge Mutter beim Reispflanzen erwischte, spielte keine Rolle. Die bombi rissen sie alle in den Tod.
Jeden Tag wurden neue Opfer eingeliefert, denen man die verstümmelten Glieder abgebunden hatte, um den Blutfluss zu hemmen. Sie kamen auf Ochsenkarren, auf Ponys, auf Tragen, die ihre Verwandten kilometerweit gezogen hatten. Das Krankenhauspersonal verabreichte ihnen
Unmengen von Opium, um alle, gute wie schlechte, Empfindungen zu unterdrücken. Und es versorgte die Wunden, so gut es ging. Den meisten Patienten konnte nicht geholfen werden. Sie hatten zu viel Blut verloren oder waren zu schwer verletzt, um sie am Leben zu erhalten. Viele andere bewahrte allein ihr eiserner Überlebenswille vor dem sicheren Tod. Alle paar Tage kam Dr. Santiago vorbei, amputierte, was nicht mehr zu retten war, und vollbrachte wahre Wunder, um den Menschen eine zweite Lebenschance zu schenken.
Im Kilometer 8 gab es keine Schichten. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, und die Schwestern und Pfleger schliefen nur, wenn ausnahmsweise einmal Ruhe einkehrte. Sie kochten für diejenigen Patienten, deren Verwandte nicht auf der Station campierten. Sie pumpten sie mit einem Schmerzmittel voll, von dem sie wussten, dass es süchtig machte, und schleppten die Verstorbenen die Böschung hinauf zur Totenhöhle, einem Krematorium am Fuß des Berges. Am Ende ihres schier endlosen ersten Tages hatte Dtui nach eigener Schätzung gut vier Kilo abgenommen. Singsai, der dienstälteste Sanitäter, meinte, in spätestens vier Wochen werde sie so dünn sein, dass man sie problemlos bei den Mopps in der Besenkammer unterbringen könne. Diese Vorstellung gefiel ihr.
Es war ein verhältnismäßig guter Tag gewesen. Nur eine Frau hatte die Reise in die Totenhöhle angetreten. Dtui war es gelungen, einem zehnjährigen Kind – vorerst – das Leben zu retten, und um zwei Uhr morgens sanken die Insassen von Kilometer 8 vom Opium berauscht in hoffentlich erholsamen Schlaf. Dtui und Singsai saßen vor dem Hauptkrankensaal, der das Gebäude der Länge nach durchzog. Da sie zum Schlafen zu erschöpft waren, sahen
sie zu den Sternen hinauf, die sich so selten am Nordosthimmel zeigten, dass der Sanitäter ihr jetziges Erscheinen als Omen sah.
»An Tagen wie heute wird einem bewusst,
Weitere Kostenlose Bücher