Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed
Pech, in einer Provinz geboren worden zu sein, die sich zu einem Spielball der Politik entwickelt hatte. Aus Gründen, die sie nicht recht begriffen, waren sie der Feind, denn wozu sind Kriege gut, wenn
niemand leidet? Die Tänzer in der Disco-Höhle hatten allesamt gelitten, die einen mehr, die anderen weniger, bis ihr Tod dem Leid ein Ende setzte. Einen spirituellen Schwof dieser Größenordnung hatte Siri noch nie erlebt. Er war ein Neuling auf diesem Gebiet. Zwar hatte er schon des Öfteren Stimmen gehört, aber ein solcher Anblick hatte sich ihm noch nie geboten. Sein persönlicher Rekord stand bei drei Geistern.
Noch vor einer Woche hätte er an dieser Stelle lächelnd den Heimweg angetreten. Wozu hätte er auch bleiben sollen? Heute jedoch ertappte er sich dabei, wie er die Treppe hinunterstieg, um sich unter die Tanzenden zu mischen. Er wusste, dass ein rhythmusverliebter Geist in seinem Körper wohnte, und wie konnte er dem armen Mann seinen letzten Tanz abschlagen? Niemand nahm Anstoß an dem alten Arzt. Niemand schenkte ihm Beachtung. Fast so, als wäre er als Einziger nicht da. Er bahnte sich höflich und jeden Körperkontakt vermeidend einen Weg durch die Menge und sprang und hüpfte so fröhlich und ausgelassen wie noch nie.
Nach einer halben Stunde tanzte er noch immer. Er war erschöpft, konnte aber einfach nicht aufhören. Er kannte die menschliche Anatomie genau und wusste, weshalb ihm welcher Muskel wehtat, aber heute Abend war er nichts weiter als ein Gefäß. Seine schwächelnde Lunge rasselte wie eine bulgarische Klimaanlage. Die Musik wurde immer lauter und dröhnte ihm in den Ohren. Die Menge scharte sich um ihn. Plötzlich war er wie geblendet. Wie aus dem Nichts richtete sich ein Scheinwerfer auf ihn – Licht aus – Spot an – der Diskothekenkönig – die Menge weicht zurück – er legt ein kesses Solo aufs Parkett – das Mikrofon: »He!«
»He«, sagte er.
»He, Genosse.«
»He, Genosse«, sagte er.
»Was machen Sie denn da?«
Er sagte: »Wa-…« Siri starrte angestrengt in das grelle Scheinwerferlicht. Jetzt war es nur noch eine Lampe. Sie lag in der Hand eines Mannes mit einer viel zu großen Uniformjacke und einer Strickmütze auf dem Kopf. Er leuchtete Siri mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht. Der Doktor blickte um sich. Die kalte Kalksteinhöhle war verlassen.
»Sie haben hier nichts verloren. Was treiben Sie denn hier, so ganz allein im Dunkeln?«, fragte der alte Wachmann. »Sie sind doch nicht etwa betrunken?«
Siri stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem. Sein Körper hatte soeben eine Bergetappe der Tour de France hinter sich gebracht. Er wusste, dass er morgen früh nicht aus dem Bett kommen würde. Doch kaum bekam er wieder etwas Luft, fing er schallend an zu lachen. Der Wachmann hielt Siri für verrückt und trat einen Schritt zurück.
»Verzeihung, Genosse«, sagte Siri schließlich. »Aber ich habe für das Konzert nächste Woche geprobt.«
»Was Sie nicht sagen. Dass die einen alten Mann wie Sie noch auf die Bühne zerren. Die sollten sich was schämen.«
»Ich bin sehr viel jünger, als ich aussehe, Bruder.«
»Sie müssen wissen, was Sie tun. Aber bleiben Sie nicht die ganze Nacht hier.«
»Keine Sorge. Danke.«
Der alte Wachmann ließ von ihm ab und folgte dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe in einen ominösen Tunnel
am anderen Ende des Auditoriums. Siri rührte sich nicht von der Stelle. Er stand inmitten der riesigen, menschenleeren Diskothek, und obwohl er sich reichlich albern vorkam, fühlte er sich erfrischt und voller Energie.
11
EIN HOCHANSTÄNDIGES ANGEBOT
Herr Geung saß seit achtzehn Stunden auf dem Baum. Er hätte gern auf seine Armbanduhr geschaut, doch die lag gut versteckt unter einer losen Fliese unter seinem Bett in der Klinik. Die achtzehn Stunden waren also eine bloße Schätzung. Es hätten ebenso gut drei Stunden sein können oder eine Woche. Er hatte ausreichend zu essen und zu trinken, aber er war schrecklich müde und wusste noch immer nicht, wie er hier oben schlafen sollte, ohne herunterzufallen. Obwohl er den Verband streng nach Anweisung gewechselt hatte und die Wunde nicht entzündet schien, schmerzte seine Schulter. Zwar war er inzwischen so etwas wie ein Experte für Wunden jeder Art, doch erst jetzt wurde ihm klar, wie weh die Dinger taten. Die Kletterei hatte ein Übriges getan. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es mit einem Arm bis hier herauf geschafft hatte. Er war noch nie ein großer
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