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Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed

Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed

Titel: Totentanz für Dr. Siri - Cotterill, C: Totentanz für Dr. Siri - Disco for the Departed Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Kletterer gewesen, andererseits hatte er sich auch noch nie vor einer Raubkatze in Sicherheit bringen müssen.
    Der Tiger hatte ihn nicht auf den Baum gejagt, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Er hatte nicht etwa Anlauf genommen und zum Sprung angesetzt, sodass seine Beute
gezwungen war, sich in heller Panik auf einen hohen Ast zu flüchten. So war es nicht gewesen. Geung hatte wie schon so oft dagesessen und auf die Sonne gewartet, als er den Tiger am Rande der Lichtung bemerkte. So ein Tier hatte er erst ein einziges Mal gesehen, bei der letzten Neujahrsgala. Der Reaktion des Publikums nach zu urteilen waren Großkatzen mit Reißzähnen furchterregende Geschöpfe. Am Ende der Vorstellung war er genauso nervös gewesen wie die übrigen Zuschauer. Angst ist ansteckend, und das ist auch gut so, denn sonst hätte er womöglich versucht, sich dem Tiger zu nähern und Freundschaft mit ihm zu schließen. Der Tiger hätte ohne Weiteres angreifen und Herrn Geung bei einem seiner elf Versuche, den Baum zu erklimmen, mit Haut und Haar verschlingen können. Aber es war helllichter Tag, und seine Beute war noch nicht schwach genug. Er hatte sie in die Enge getrieben, und früher oder später würden ihre Kräfte schwinden.
    Dtui und Geung saßen im Baum, erzählten sich Witze und lachten über ihre missliche Lage. Sie hielten sich gegenseitig wach. Einmal, als der Tiger ihnen nachzuklettern versuchte, ermutigte Dtui ihren tapferen Gefährten, mit einem Zweig nach dem sabbernden Maul der Katze zu schlagen. Zusammen mit seiner Freundin ließ es sich hier oben prima aushalten. Wären seine Müdigkeit und der unbequeme Hochsitz nicht gewesen, hätte es ein höchst vergnügliches Abenteuer sein können.
     
    Dtui war im Schlafsaal. Wieder stand ihr Geungs Bild deutlich vor Augen. Hätte es in der Pathologie doch nur ein Telefon gegeben, dann hätte sie anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen können. Die kleine Panoy
lag in demselben Bett, in dem auch Frau Wunderlich gelegen hatte. Sie war noch nicht wieder bei Bewusstsein, doch ihr Puls raste wie der eines Pferdes. Sie war eine echte Kämpfernatur. Dtui nahm sich fest vor, das Mädchen wieder in ihr Dorf zurückzubringen.
    Sie strich Panoy das Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Zu ihrem Erstaunen stand Genosse Lit in der Tür. Er hatte die Sonne im Rücken und sah aus wie ein junger Gott. Die neuen Epauletten auf den Schultern seiner Uniform schimmerten wie Engelsschwingen. Fast hätte sie vergessen, dass sie ihn nicht ausstehen konnte.
    »Schwester Dtui.« Er nickte steif.
    »Genosse Lit. Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«
    »Schießen Sie los«, sagte sie.
    »Ich dachte, wir könnten vielleicht nach draußen gehen.«
    »Genosse, diese Patienten sind so stark sediert, dass sie selbst dann noch beseelt lächeln würden, wenn Sie sie mit einem Lastwagen überrollen würden.«
    »Trotzdem …«
    »Es ist heiß draußen. Hier drinnen ist es zwanzig Grad kühler … außerdem bin ich im Dienst.« Er ging ihr auf die Nerven. Konnte er nicht einfach sein Sprüchlein aufsagen und sich wieder verdrücken?
    »Wie Sie wünschen«, sagte er und trat ins Zimmer. Dtui stemmte den Arm in die Hüfte und rechnete mit einer Gardinenpredigt. Doch die Aura der Arroganz, die den Sicherheitschef sonst umgab, war mit einem Mal wie weggeblasen. Er wirkte irgendwie zerbrechlich, schüchtern beinahe. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, aufrecht zu stehen: Er erinnerte eher an einen schlaffen Wandbehang
denn an eine starke Säule. Sein Schweigen beunruhigte Dtui.
    »Je eher Sie mit der Sprache herausrücken, desto eher kann ich wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie. Seine unsichere Miene verwirrte sie. Er starrte über ihre Schulter hinweg auf einen Punkt an der Wand.
    »Ja«, sagte er schließlich. »Sie haben Recht. Das Leid der Unterdrückten und Geknechteten hat Vorrang vor unseren alltäglichen Sorgen und Nöten. Das Wohl der Patienten steht für uns ganz zu Recht an erster Stelle.«
    »Gut«, sagte sie. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich jetzt um die Geknechteten kümmere.« Sie ging an ihm vorbei zur Tür. Die Situation hatte etwas Absurdes.
    »Aber …«
    Sie drehte sich um. »Aber?«
    Wie auf ein Stichwort hob er zu einer Rede an. Er hatte sie eindeutig erst niedergeschrieben und dann auswendig gelernt. Dennoch gab es für Dtui nicht den geringsten Zweifel, dass Genosse Lit stundenlang an

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