Totentanz
neue Niere bekommen, doch wir sind ihm zuvorgekommen. Ich bin der einzige hier, der weiß, wie er heute aussieht.« Laurentis Ärger drückte sich in einer harschen Armbewegung aus, die ihn ächzend in sich zusammensinken ließ. Der Schmerz in seiner Brust trieb ihm Tränen in die Augen. »Gib mir ein Taschentuch«, sagte er zu der Inspektorin. »Und hilf mir beim Aufstehen.«
Er war noch keine zwölf Stunden aus dem Tiefschlaf erwacht, und schon wieder gab es Ärger. Hätte Galvano doch die Klappe gehalten und die Kleine machen lassen, was sie wollte, ohne es ihm zu verraten. Doch entweder hatte der alte Zyniker plötzlich Schiß vor der eigenen Courage, oder es war ihm erst nachträglich bewußt geworden, wie gefährlich die Sache war, auf die er sich eingelassen hatte. Voller Überheblichkeit und sich restlos überschätzend hatte sich die Inspektorin in eine Situation gebracht, aus der es kein Zurück mehr gab. Und er, Proteo Laurenti, konnte ihr beim besten Willen nicht helfen.
»Also, raus mit der Sprache«, sagte er endlich und wagte ein paar vorsichtige Schritte an der Wand entlang. »Wie wollen Sie vorgehen?«
18.9.18'09
Pünktlich und mit einem leichten Ruck setzten sich die Waggons in Bewegung. Um diese Uhrzeit war die talfahrende Linie schwach besetzt, während sich die Pendler im Gegenzug drängten, der gemächlich den Anstieg auf den Karst bezwang.
Viktor Drakič schäumte vor Wut. Gerade erst hatte er verärgert die neuen Anweisungen zur Kenntnis genommen und seine Leute davon unterrichtet. Zur Mittagszeit noch hatte die Männerstimme mit dem leichten amerikanischen Akzent ihm befohlen, um 18 Uhr 35 in Villa Opicina, der vernachlässigten Haltestelle des Triestiner Nordbahnhofs, in den aus Ljubljana kommenden Zug nach Venedig einzusteigen. Auf der Fahrt nach Monfalcone, der nächsten Station, sollte die Übergabe stattfinden. Diese Anweisung hatte Drakič mit einem süffisanten Lächeln zur Kenntnis genommen, denn auf dem Karst kannte er sich aus. Er war davon ausgegangen, daß seine Kontrahenten nach der Übergabe versuchen würden, während der langsamen Fahrt auf den alten Gleisen vom Zug abzuspringen oder zumindest den Geldkoffer hinauszubefördern. Hier hätten seine Männer keine Mühe gehabt zuzuschlagen. Doch dann kam vor ein paar Minuten die Programmänderung. Diesmal war es wieder die Frauenstimme mit der süditalienischen Sprachfärbung, die ihm befahl, die Trambahn statt des Zugs zu besteigen. Und nun fehlte die Zeit, seine Privatarmee an den Haltestellen entlang der Trasse in die Stadt aufzustellen. Die Frau hatte ihn reingelegt, Drakič mußte improvisieren. Zum erstenmal seit langem spürte er Verunsicherung. Ein strategischer Vorteil seiner Feinde, die er offensichtlich unterschätzt hatte.
Zwei Muskelmänner waren bei ihm, einer lehnte, einen Aktenkoffer in der Hand, am Heckfenster des ersten Waggons, der andere in dem dahinter. Zwei weitere versuchten, in der Gegenrichtung der bergfahrenden Standseilbahn mit dem Auto zu folgen, so gut sie konnten. Mehrfach kreuzten die Gleise die Via Commerciale, doch oft führte die Trasse abgelegen durch dichten Baumbestand und undurchdringliches Unterholz den Steilhang hinauf. Zwei weitere Männer folgten Drakič von Opicina aus mit dem Auto. Bessere Maßnahmen ließen sich angesichts solch knappen Spielraums nicht treffen. Seine Kontrahentin hatte ihm einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht und außerdem barsch davor gewarnt, in Begleitung zu erscheinen. Erst während der Fahrt sollte er erfahren, an welcher Haltestelle er aussteigen müßte. Doch so einfach, wie sie hoffte, würde er es ihr auf gar keinen Fall machen.
Viktor Drakič trug in der rechten Hand ebenfalls einen Koffer, der dem seines Gorillas zum Verwechseln ähnlich sah und das Falschgeld enthielt. Trotz der freien Sitzplätze stand er mitten im Flur und hielt sich mit der Linken an einer Sitzlehne fest, wenn der Waggon ruckelnd über Weichen fuhr. Neben ihm saß, in sich zusammengesunken, eine einfach gekleidete ältere Frau mit dickem und ungepflegtem grauem Haar, das ihr tief ins Gesicht und über die riesige dunkle Brille hing, die sie auch nicht schöner machte. Trotz der Sonne, die den Innenraum aufheizte, trug sie einen viel zu langen, abgetragenen Trenchcoat mit hochgekrempelten Ärmeln. Der Spazierstock paßte so wenig zu ihr wie die Sportschuhe, die ihr zu groß sein mußten. Schon an der Endhaltestelle war sie Drakič aufgefallen, weil der alte schwarze
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