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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hier raus«, sage ich. »Es tut ihm nicht gut, hier drinnen eingesperrt zu sein und sich den ganzen Tag um mich zu sorgen. Bring ihn dazu, ein Spiel mit dir zu spielen oder etwas zu tun, was Spaß macht.«
    Das heitert sie auf und sie nickt. Sie versteht sich darauf, die Laune unseres Ehemanns zu heben, und das kann für mich tun. Abgesehen davon nimmt sie jede Gelegenheit wahr, Lindens ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Am späten Vormittag hat sie Linden schließlich davon überzeugt, dass sie ganz ausgehungert nach Aufmerksamkeit ist, und wenn er ihr nicht hilft, Schach spielen zu lernen, wird sie anfangen zu weinen. Er will nicht, dass sie weint, weil er eine Fehlgeburt befürchtet.
    Und ich erhalte meine begrenzte Form der Freiheit.
    Eine Weile genieße ich die Ruhe und lasse mich durch
sommerliche Träume treiben. Nur Wärme und Licht. Die Hände meiner Mutter. Mein Vater am Klavier. Die Stimme des kleinen Mädchens von nebenan, in einem Pappbecher in meinen Händen.
    Und dann ist da eine andere Stimme. Ich mache die Augen so schnell auf, dass sich das ganze Zimmer dreht.
    »Rhine?«
    Gabriels Stimme erreicht mich überall. Sogar in einem Hurrikan.
    Jetzt steht er in meiner Tür, zerschrammt und voller blauer Flecken, und hält etwas in den Händen, das ich nicht wirklich erkennen kann. Ich will mich aufsetzen, was mir trotz aller Anstrengung nicht gelingen will, und er kommt zu mir und setzt sich neben mich. Er macht den Mund auf und will etwas sagen, aber ich komme ihm zuvor.
    »Es tut mir so leid«, sage ich.
    Was er getragen hat, legt er aufs Bett, nimmt meine Hände, und ich fühle mich wieder genauso sicher wie in dem Augenblick, als ich in seine Arme geschleudert wurde.
    »Geht es dir gut?«, fragt er.
    Eine einfache Frage. Und weil er mir das Leben gerettet hat, was immer das auch bedeuten mag, sage ich ihm die Wahrheit. »Nein.«
    Eine Weile blickt er in mein Gesicht. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie erbärmlich ich aussehen muss, aber er scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Mein Anblick entrückt ihn an irgendeinen fernen Ort.
    »Was ist denn?«, frage ich. »Woran denkst du?«
    Eine Weile bleibt er mir die Antwort schuldig. Dann
sagt er: »Du warst fast weg.« Er meint damit nicht, dass ich fast entkommen wäre.
    Ich mache meinen Mund auf, um … ich weiß auch nicht … vielleicht um mich noch einmal zu entschuldigen. Aber er nimmt mein Gesicht in seine Hände und drückt seine Stirn an meine. Und er ist so nah, dass ich seine kleinen warmen Atemzüge spüren kann, und ich weiß nur, bei seinem nächsten Atemzug möchte ich mit eingesogen werden.
    Unsere Lippen finden sich, so sanft, als würden sie sich gar nicht berühren. Dann drücken sie sich fester aufeinander, ziehen sich unsicher zurück und berühren sich erneut. Wo Schmerz sein sollte, schießt Wärme durch meinen geschundenen Körper. Ich lege ihm die Arme um den Hals und halte mich an ihm fest. Ich halte ihn fest, weil man in diesem Haus nie weiß, wann einem etwas Gutes weggenommen wird.
    Ein Geräusch reißt uns auseinander. Gabriel steht auf und sieht hinaus auf den Flur. Dann aus dem Fenster. Wir sind allein, aber erschrocken. So viel zum Vorsichtigsein.
    Mein Herz dröhnt mir in den Ohren und es ist etwas Euphorisches – nicht der Schmerz oder ein Sturm –, was mir das Atmen schwer macht. Gabriel räuspert sich. Seine Wangen sind glühend rosa und sein Blick hat einen umnebelten Ausdruck angenommen. Es fällt uns schwer, uns anzusehen.
    »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagt er mit abgewandtem Blick. Er hält das Ding hoch, das er eben noch getragen hat. Ein schweres schwarzes Buch mit der Abbildung von einer roten Erde auf dem Einband.

    »Du hast mir Lindens Atlas gebracht?«, sage ich skeptisch.
    »Ja, sieh doch.« Er schlägt eine Seite auf, die voller Landkarten in Braun und Beige mit blauen Linien darauf ist. Die Überschrift lautet: Flüsse Europas . Auf einer Seite ist eine Legende, in der Landschaften und Flüsse aufgeführt sind. Gabriel zeigt auf den dritten von unten. Rhine. Mit dem Finger fährt er die blaue Linie entlang. »Rhine ist ein Fluss«, sagt er.
    Nun ja, es war ein Fluss, bevor alles zerstört wurde. Aber das wusste ich nicht. Meine Eltern mussten es gewusst haben. Sie hatten es so geliebt, geheimnisvolle Wissenschaftler zu sein, und es muss so viele Dinge geben, die sie nie die Gelegenheit hatten, meinem Bruder und mir zu erzählen.
    Mein Finger folgt Gabriels die Ader eines Flusses

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