Totenverse (German Edition)
hoffentlich Zeit bis nach dem Gebet.«
Osama zögerte. Er mochte den Mann nicht und hätte keinerlei Bedenken gehabt, seinen Tagesablauf durcheinanderzubringen, aber Abdulrahman war auch jemand, der tat, was er wollte, ungeachtet dessen, ob das anderen passte oder nicht.
Am Ende entschied Katya die Situation. Sie trat hinter Fuad hervor und blickte Abdulrahman direkt ins Gesicht. Der Mann sah sie an, und einen Moment lang schien ihm eine schroffe Bemerkung auf der Zunge zu liegen, doch dann warf er sein Handtuch auf einen Zuschneidetisch und führte sie steif ins Büro.
Katya saß auf einem Schreibtischstuhl knapp links hinter Osama, sodass sie ihre beiden Gegenüber im Auge behalten konnte. Sie hatte sich den Stuhl selbst zurechtrücken müssen, weil der Assistent, Fuad, sie offenbar stehen lassen wollte. Er hatte Osama einen Platz angeboten und einen boshaften Blick in ihre Richtung geworfen, als wollte er sagen: Verschwinde doch einfach, du hast hier nichts zu suchen . Sie achtete nicht auf ihn. Osama war zu sehr auf Abdulrahman konzentriert, um irgendwas anderes zu bemerken, also saß sie stumm da und fragte sich, warum Osama sie überhaupt mitgenommen hatte. Wahrscheinlich wusste er, dass die Männer auf die Anwesenheit einer Frau ungehalten reagieren würden. Sie schob ihren Ärger beiseite. Das hier war die Gelegenheit, die sie sich gewünscht hatte.
Abdulrahman setzte sich auf das Sofa ihnen gegenüber. Sie starrte ihn unverfroren an. Solange er sie für eine Polizistin hielt, würde sie die Rolle mit Freude spielen. Tatsächlich suchte sie nach Ähnlichkeiten mit Leila und entdeckte nur eine leicht ähnlich geschnittene Kinnpartie. Abdulrahmans Gesicht war fleischiger, älter, nicht so lebendig und ausdrucksvoll, wie sie sich Leilas zu Lebzeiten vorstellte. Katya hatte es immer lächerlich gefunden, wenn Männer, die bereit waren, eine arrangierte Ehe einzugehen, Persönlichkeit und Verhalten ihrer zukünftigen Gattin dadurch bestimmen wollten, dass sie deren Bruder studierten. Und jetzt saß sie hier und musterte Abdulrahman auf der Suche nach Anhaltspunkten dafür, wie Leila wohl gewesen sein mochte.
Er hatte ebenfalls etwas Leidenschaftliches an sich. Seiner intensiv ernsthaften Ausstrahlung konnte sich keiner entziehen, am wenigsten Fuad. Der Assistent schaffte es nicht, sich zu setzen. Er blieb an der Tür stehen, als wartete er auf Anweisungen, und arbeitete seine nervöse Energie ab, indem er sein Handy checkte, die Mitarbeiter im Atelier überwachte und dabei gleichzeitig die Stimmung seines Chefs auslotete.
Osama ergriff das Wort. »Hat Leila je erwähnt, dass sie an einem Dokumentarfilm über den Koran arbeitet?«
Fuad schien schlagartig zu erstarren. Abdulrahman blickte Osama finster an und schüttelte den Kopf. »Meine Schwester hat so einiges gemacht, wovon sie mir nichts erzählt hat.«
»Vielleicht hatte sie Angst vor Ihrer Reaktion?«
»Die hätte davon abgehangen, was sie gemacht hat.«
Osamas kalt monotoner Tonfall klang anklagend. »Ihre Schwester hat einen westlichen Forscher für einen Dokumentarfilm interviewt, der behauptet, dass der Koran nicht das wahre und vollständige Wort Allahs ist, sondern von den frühen Muslimen abgeändert wurde.«
Abdulrahmans Nasenflügel bebten.
»Der Film war unvollendet, aber das vorhandene Material lässt keinen Zweifel daran, womit sie sich befasst hat. Dieses Projekt war natürlich hochbrisant, und falls die falsche Person davon erfahren hat –«
»Werfen Sie mir irgendwas vor?«
»Haben Sie irgendwas gemacht, Herr Nawar?«
Die Stille zog sich so lange hin, dass sie etwas Bedrohliches bekam. Fuad sah seinen Chef an, aber Abdulrahman wich seinem Blick aus.
Schließlich sagte Fuad: »Leila war immer auf der Suche nach kontroversen Themen.« Katya und Osama wandten sich beide zu Fuad um. »Das heißt nicht, dass sie es geglaubt hat.«
Osama fixierte erneut den Bruder. »Ich denke, Ra’id ist da anderer Ansicht.«
»Ra’id weiß gar nichts«, knurrte Abdulrahman.
»Dann wussten Sie also von dem Dokumentarfilm?«, fragte Katya.
Osama zuckte leicht zusammen, vielleicht aus Überraschung, dass sie etwas gesagt hatte. Abdulrahman sah sie empört an. »Ich hab gesagt, ich weiß von nichts.«
»Dann weiß Ra’id vielleicht mehr, als Sie glauben?«, mutmaßte Katya.
Abdulrahman warf ihr einen vernichtenden Blick zu, aber Fuad mischte sich ein. »Ich verstehe nicht, was das mit ihrem Tod zu tun haben soll.«
»Sprechen wir über Ihr
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