Totenverse (German Edition)
ständig allen imponieren zu müssen. Sie war erschöpft. Und das Absurde war, dass sie gedacht hatte, Osama wollte sie genau so haben. Er wollte, dass sie berufstätig war, das hatte sie von Anfang an gewusst, er wollte das zweite Einkommen, wollte seinen Freunden erzählen können, dass seine Frau etwas Wichtiges tat, dass sie ein modernes Paar waren, rundum erfolgreich. Aber jetzt hatte sie erkannt, dass sie ihn enttäuscht hatte, weil sie gelogen hatte. Und obendrein die Wahrheit: Was sie wirklich wollte, war keine Familie mehr, die sie belastete. Keine Pflichten mehr.
Osama hatte schwer mit sich gerungen, um ihr nicht zu antworten, nicht aus seiner Rolle auszubrechen und auf sie einzugehen, irgendwas Tröstendes zu sagen. Er konnte sich kaum noch erinnern, warum er zornig auf sie gewesen war. Er wusste nur, dass er nach Hause wollte und sie in die Arme schließen und sich für seine Kälte entschuldigen.
Aber er konnte jetzt nicht mit ihr reden. Nayir saß noch immer bei ihm im Wagen, und sein Telefon klingelte schon wieder. Er meldete sich und lauschte auf das, was Majdi zu sagen hatte. Anschließend blickte er Nayir an.
»Das Passwort für die Speicherkarte ist geknackt. Majdi sagt, es war ziemlich einfach. Auf der Karte ist eine Datei mit Koranschriften, die bei einer Ausgrabung im Jemen gefunden wurden. Angeblich die früheste bekannte Version des Korans. Aus irgendeinem Grund wollen die jemenitischen Behörden die Schriften nicht an die Öffentlichkeit bringen, daher handelt es sich wohl um gestohlene Dokumente.«
»Hatte Majdi Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen?«
»Nein. Möchten Sie?«
Nayir schüttelte den Kopf. Er sah müde und hungrig aus.
Osama setzte ihn am Jachthafen ab und fuhr weiter zum Präsidium. Es wurde allmählich dunkel. Er ging direkt zu Riads Büro, aber der war schon weg, weil er zur Hochzeit eines Cousins musste.
Erleichtert blieb Osama auf dem Flur im ersten Stock unter einer flackernden Neonlampe stehen und rief Nuha an. Sie ging nicht an ihr Handy, daher versuchte er es zu Hause. Das Telefon läutete siebenmal, und er wurde unruhig. Beim achten Klingeln meldete sie sich.
»Hallo?«
»Nuha …«
Sie hatte geweint, das hörte er ihrer Stimme an.
»Es tut mir leid, dass ich nicht da bin«, sagte er. »Es tut mir ehrlich leid. Ich hab hier noch ein paar Sachen zu erledigen.«
»Aber du kommst nach Hause?«, fragte sie. »Allein?« Er hörte einen Anflug von Zorn in ihrer Stimme, wollte aber nicht darauf eingehen.
»Ja, ich komme später. Nuha, verzeih mir bitte.«
Als er auflegte, fürchtete er kurz, ihm würden die Beine versagen. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und staunte, wie wütend er auf seine Frau gewesen war. Geschlagene vier Tage hatte er mit ihr kein Wort gewechselt und erst jetzt sein Schweigen gebrochen. Doch obwohl er eigentlich Erleichterung hätte empfinden müssen, erfasste ihn Unsicherheit. Es war nicht vorüber, das wusste er. Eine simple Entschuldigung brachte die Dinge nicht wieder in Ordnung.
Katyas Labor lag zwei Türen weiter, und er klopfte leise an, ehe er die Tür öffnete. Sie stand in der Ecke auf einem Stuhl und blickte durch ein hohes, schmales Fenster nach unten auf die Straße. Eine Hälfte des Raumes war dunkel. Ein großes Gerät verströmte blaues Licht.
Sie hörte ihn nicht hereinkommen.
»Fräulein Hijazi«, sagte er. Sie fuhr erschrocken herum und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Er sprang sinnloserweise vor, obwohl er sie niemals rechtzeitig hätte auffangen können.
Sie wirkte aufgelöst, als sie von dem Stuhl stieg und ihr Kopftuch richtete. »Verzeihung«, sagte sie und schob den Stuhl zurück unter den Schreibtisch. »Ich hab bloß nachgesehen, ob es bald Regen gibt.«
»Sie sind nicht verheiratet«, sagte er.
Sie erstarrte.
»Als ich Sie Nayir gegenüber als seine Frau bezeichnet habe, hat er mir nicht widersprochen«, sagte Osama.
»Na ja«, erwiderte sie mit bebender Stimme, »er ist ein schweigsamer Mann, aber nein, ich bin nicht verheiratet.« Sie schob ihre Hand in den Ärmel. »Es tut mir leid, dass ich gelogen habe.«
Er war erbost, aber die Ereignisse der letzten Stunden hemmten ihn. »Ich vermute, Sie hatten keine andere Wahl«, sagte er.
Sie schaute ihn überrascht an. »Möchten Sie, dass ich gehe?«
Er schüttelte widerwillig den Kopf, und sie nickte erleichtert.
»Das bleibt vorläufig unter uns«, sagte er. »Von mir erfährt es keiner. Und falls irgendwer fragt, sind Sie
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