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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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verheiratet. Ist das klar?«
     
    Sie nickte erneut. Noch immer frustriert, wandte er sich zum Gehen. »Und machen Sie Nayir klar, dass er nicht Ihr Ehemann ist.«
    Sie sah aus, als graute ihr davor am meisten.
    Nayir ging völlig aufgewühlt den Steg hinunter und stolperte kurz vor seinem Boot fast über eine Taurolle, so in Gedanken war er.
    Es war erst neun Uhr, aber er fühlte sich, als hätte er an einem einzigen Tag so viel erlebt wie sonst in einer Woche. Ihm war, als käme er nach der ganzen Zeit, die er mit dem Polizisten verbracht hatte, noch immer nicht aus dem Staunen heraus. Vor allem Kleinigkeiten waren bei ihm haften geblieben. Wie er die Frau am Arm gepackt hatte, als sie mit dem Messer auf ihn losging. Wie er Mrs Marx freimütig ins Gesicht geschaut hatte. Und über alldem ragte Osama auf wie eine Festung im Angesicht eines erbarmungslos tosenden Meeres.
    Nayir hatte früher mal in Erwägung gezogen, zur Religionspolizei zu gehen, aber andere von früh bis spät zu ermahnen, dass sie beten, sich bedecken, sich schicklich und anständig verhalten sollten, war ihm wie der deprimierendste Beruf der Welt vorgekommen, weil er ihn unablässig daran erinnern würde, dass die Menschen unschicklich und lasterhaft waren. Die Geschehnisse dieses Tages hatten ihm nun zudem bewusst gemacht, dass Schicklichkeit zu den geringsten Sorgen der Gesellschaft zählte, wenn Menschen sich tagtäglich gegenseitig umbrachten, verletzten, anschrien und niederstachen.
    Er war erschöpft, aber irgendwie auch randvoll mit einer flirrenden, zuckenden Energie. Er versuchte erneut, Miriam anzurufen, aber diesmal ertönte gar kein Rufzeichen mehr. Die Verbindung war einfach tot, was nichts Gutes verhieß. Er rief Samir an, um nach Miriam zu fragen, aber auch dort war sie nicht wieder aufgetaucht. Er wusste, dass er nicht würde schlafen können, daher ging er in die Kombüse und aß rasch ein wenig Hummus mit Pita, wobei er die Kajütenwand anstarrte und versuchte, das Denken abzuschalten.
    Er sagte sich immer wieder, dass Miriam freiwillig aus dem Haus gegangen war, aber eine leise Stimme in seinem Innern raunte beharrlich, dass sie entführt worden war. Wahrscheinlich war sie in Panik geraten und hatte beschlossen, doch nicht mit der Polizei zu sprechen. Der Gedanke traf ihn. Er hätte sie nicht gezwungen, aufs Präsidium zu gehen. Aber es war nach wie vor nicht auszuschließen, dass etwas Schlimmeres passiert war …
    Noch dazu konnte er nicht aufhören, an Katya zu denken. Hatte sie explizit zu Osama gesagt: »Nayir ist mein Mann« – oder hatte Osama das nur gefolgert? Hatte sie im Kollegenkreis gesagt, sie sei verheiratet, oder war man einfach davon ausgegangen, weil sie den Verlobungsring trug? Er versuchte, mildernde Umstände für sie zu finden, indem er sich vorstellte, dass sie niemanden bewusst angelogen hatte und den Ring nur trug, weil sie Othman nicht vergessen konnte, aber der Gedanke schmerzte ihn nur noch mehr.
    Nach dem Essen ging er ins Bad und verrichtete seine Waschungen. Er war dankbar für die Atempause, aber sobald er fertig war, klingelte sein Handy. Er wollte es schon ausschalten, doch da sah er, dass der Anrufer Osama war.
    »Ist sie zu Ihnen aufs Boot gekommen?«, fragte er statt einer Begrüßung.
    »Nein«, sagte Nayir. »Und bei meinem Onkel hat sie sich auch nicht gemeldet.«
    »Hier gibt es auch nichts Neues. Ich hab die Nachbarn noch mal angerufen, und die haben nichts von ihr gehört. Ich hab ein ganz ungutes Gefühl.«
    »Ich auch.«
    »Wir haben die Polizei in Qaryat al-Faw angerufen«, sagte Osama, »und ihnen die Koordinaten durchgegeben. Die wollen jemanden hinschicken.«
    »Was meinen Sie, wie lange die brauchen werden?«
    Nayir hörte förmlich das Achselzucken am anderen Ende. »So lange werde ich jedenfalls nicht wach bleiben.«
    Nach dem Telefonat kehrte Nayir ins Bad zurück und versuchte, den fragilen Zustand der Reinheit und Ruhe wiederzuerlangen, den er zuvor erreicht hatte. Er wiederholte die Waschungen, aber auch das half nicht. Als er schließlich auf dem Gebetsteppich kniete, musste er sich anstrengen, seine Konzentration zu wahren. Nach dem zweiten Raka’at gab er auf und betete nur noch um ihre Sicherheit:  … und wo immer sie ist, Allah, bitte mach, dass sie mich anruft .
    Mitten in der Nacht schreckte Nayir aus dem Schlaf. Er hatte nicht geträumt. Er hatte auch kein Geräusch gehört. Er hatte vielmehr das Gefühl, als hätte sich all die Angst des Tages so fest in

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