Totenverse (German Edition)
Osama.
Abdulrahman sah noch immer zornig aus. »Ra’id wohnt auch hier. Seit einem Jahr.«
»Wo ist sein Zimmer?«
»Da.« Abdulrahman zeigte auf eine offene Tür, und Osama prägte sie sich ein.
Leilas Raum befand sich am Ende des Ganges. Es war ein Eckzimmer, sodass man durch die Fenster in den Garten blicken konnte, der sich hinter und neben dem Haus erstreckte. Abdulrahman ging zum Kleiderschrank, ein wuchtiges Eichenmöbel, das an einer Wand stand. Er holte einen Schlüssel aus einer Nische an der Seite und schloss ihn auf. »Ihr Schrank«, sagte er. »Alles andere müsste offen sein. Es gibt nicht viel zu sehen.«
»Wenn Sie bitte draußen warten würden«, sagte einer von der Spurensicherung. »Ein Beamter wird Sie begleiten.« Ein Uniformierter winkte Abdulrahman, und der ging widerspruchslos mit ihm hinaus.
Osama sah zu, wie die Männer von der Spurensicherung begannen, den Raum zu durchsuchen. Dann ging er zu einer Kommode, noch so ein kolossales Eichenmöbel, und studierte die ungerahmten Fotos, die aussahen, als wären sie wahllos dorthin gelegt worden. Ein Kriminaltechniker reichte ihm ein Paar Plastikhandschuhe, und er zog sie an. Bei der Durchsicht der Bilder wurde ihm bald klar, dass Leila und Ra’id offenbar viel Zeit zusammen verbracht hatten. Da waren Aufnahmen von ihnen, wie sie an einem Privatstrand lagen, sich auf einer Bowlingbahn amüsierten, in dem hauseigenen Swimmingpool unten herumplanschten. Eine ganze Reihe Fotos von Katzen in verschiedenen Teilen des Hauses. Ein paar von Abdulrahman, auf denen er oberlehrerhaft aussah.
Ihr Bruder hatte recht, es gab nicht viele Spuren von Leila in dem Zimmer. Einige Kleidungsstücke, ein paar Schulbücher, die auf einem Regal Staub ansetzten. Kein Schmuck, kein Make-up. Vor allem aber deutete kaum etwas darauf hin, dass hier eine Filmemacherin gelebt hatte. Es gab keine Kamerataschen oder Kameras oder Objektive, keine DVD-Stapel, nicht mal einen Computer, bloß ein paar Kabel lagen herum.
Er überließ den Forensikern das Zimmer und schlenderte den Gang hinunter. Vor Ra’ids Zimmer blieb er gerade lange genug stehen, um erneut enttäuscht zu werden. Immerhin lagen hier Kleidungsstücke herum, die meisten verstreut auf dem Boden, und es gab ein hohes CD-Regal. Ein Computer stand noch immer im Verpackungskarton auf dem Schreibtisch. Osama ging weiter, machte eine gemächliche Hausbesichtigung und blieb stehen, um eine der allgegenwärtigen Inschriften aus dem Koran zu lesen, die über einem Holzofen aus Keramik und einem Ikea-HiFi-Regal voller CDs hing.
Er blieb mit Blick auf den Innenhof stehen und dachte über Abdulrahman nach. Anfangs hatte er ihn für den typischen syrischen Junggesellen mittleren Alters gehalten, der eifrig an ohnehin schon winzigen Dessousteilen herumschnippelte und in der Branche reüssierte, die inzwischen fest in syrischer Hand war. Nun jedoch sah er, dass Abdulrahman zutiefst in Dschidda verwurzelt war. Er musste zig Millionen Rial in dieses Haus gesteckt haben, und so ein Haus würde wohl kaum jemand bauen, der nicht die Stadt und ihre Architektur liebte. Abdulrahman schien konservativ zu sein. Zugegeben, er verdiente sein Geld mit dem Entwerfen und Verkaufen von Dessous, aber das bedeutete ja keineswegs, dass ein Mann nicht ansonsten völlig traditionell sein konnte. Schließlich waren Dessous dazu gedacht, in der Privatsphäre des Schlafzimmers Ehemänner zu erregen, und Abdulrahman wirkte ansonsten so offen und geradlinig, dass Osama ihn für altmodisch hielt. Zum Beispiel hatte er nicht zugelassen, dass ein männlicher Ermittler seine Frau vernahm. Andererseits vermittelte das Haus den Eindruck, dass Abdulrahman selbst sich durchaus für modern hielt. Davon zeugten das CD-Regal, die Satellitenschüssel für den Fernseher, die iPod-Anlage, auf der im Salon sanfter Jazz lief. Und vielleicht war gerade das so eigenartig: dass Abdulrahman die Extreme von Tradition und Moderne so nahtlos in sich vereinte.
Osama fand ihn in der Küche. Die Spurensicherer waren nicht zu sehen, aber es gab Anzeichen dafür, dass sie irgendwo in der Nähe waren – ihre Werkzeugkoffer auf dem Boden, die Fingerabdruckpinsel herrenlos auf dem Küchentresen.
»Was machen Sie hier?«, fragte Osama.
»Ich wollte mit diesen Männern reden.« Abdulrahman zeigte auf einen Werkzeugkoffer in der Nähe.
»Ich muss Sie leider bitten, draußen zu warten, Herr Nawar.«
»Ich wollte nur sicherstellen«, sagte Abdulrahman kühl, »dass die nicht
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