Totenverse (German Edition)
der er sich durch eine Reihe von digitalisierten Dokumenten klickte. Es handelte sich um abfotografierte alte Handschriften.
»Die haben sie im Schlafzimmer des Opfers gefunden«, erklärte er und deutete auf den Monitor. »An die Unterseite einer Kommodenschublade geklebt.«
»Was sind das für Manuskripte?«, erkundigte sich Katya.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab sie eben erst eingescannt und werd noch nicht so ganz schlau daraus. Sieht aus wie Koranschriften, aber das muss ich noch genauer prüfen. Ich kenn mich im Koran nicht so gut aus«, fügte er hinzu und schielte rasch zu ihr rüber, um ihre Reaktion abzuschätzen.
»Soll das etwa heißen, Sie haben das Heilige Buch nicht komplett auswendig gelernt?«, fragte sie.
Er lächelte sie dankbar an. »Leider bin ich auf dem Gebiet nicht besonders firm. Aber ich sehe da Verweise auf Gebete.«
Bei den vergilbten Manuskripten handelte es sich offensichtlich um Palimpseste, wobei die obere Schrift nur leicht dunkler war als die darunter befindliche. Die Schrift war gleichmäßig und verschlungen, die Tinte an manchen Stellen verschmiert. Katya versuchte, sie zu entziffern, aber Majdi ging die Seiten so schnell durch, dass sie nur hier und da ein Wort erhaschte.
Majdi überflog noch ein paar Seiten, ehe er sich zwang, aufzuhören, und Katya ansah. »Wie dem auch sei, wie läuft es bei Ihnen oben?«
Sie erzählte ihm von ihrer Entdeckung und von Faruha. Majdi war kein Mann, der seiner Begeisterung Ausdruck verleihen konnte, wenn er sich gerade verbissen auf etwas anderes konzentrierte, aber er nickte rasch.
»Osama ist heute Morgen unterwegs«, sagte er, »aber ich erzähl’s ihm, wenn er wieder reinkommt. Sie können es ihm aber auch selbst sagen.«
»Wo ist er?«
»Auf der Suche nach dem Exmann des Opfers.« Majdi trank den letzten Schluck Kaffee und warf den Becher in den Abfalleimer.
»Was weiß man denn über den Ex?«, fragte Katya.
»Leila hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen.«
Es kam ihr ziemlich sinnlos vor, jemanden aufzuspüren, zu dem das Opfer schon monatelang keinen Kontakt mehr gehabt hatte. »Was ist mit ihrem letzten Auftrag?«, sagte sie. »In der Vermisstenanzeige stand doch irgendwas von einem Foto-Auftrag.«
»Ja«, sagte Majdi und zeigte auf den Monitor. »Vielleicht ging es dabei ja um das da. Nach Aussage von Leilas Bruder hat sie Fotos für einen Mann namens Wahhab Nabih gemacht. Er war sich ganz sicher, dass der Mann so hieß, aber er hatte keine Ahnung, was für Fotos sie für ihn gemacht hat. Sie hat ihm bloß gesagt, es ginge um eine private religiöse Kunstsammlung.«
»Die Handschriften da könnte man doch als ›Kunstsammlung‹ bezeichnen, finden Sie nicht?«
»Klar, aber das Problem ist, dass ich niemanden namens Wahhab Nabih finden kann.«
»Wie meinen Sie das?«
»In ganz Saudi-Arabien gibt es keinen Herrn Nabih, und falls doch, dann hat der Kerl keinen Pass, keinen Ausweis, kein Bankkonto und keinerlei Ein- oder Ausreisevermerke. Das Einzige, was ich finden konnte, war eine Immobilie hier in Dschidda, die einem gewissen W. Nabih gehört. Also wenn das derselbe Mann ist, dann hat er ein Haus, aber keinen Ausweis.«
»Vielleicht ist er Beduine?«
»Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte Majdi, »die meisten Beduinen haben sich zumindest ins Melderegister eintragen lassen.« Er wandte sich wieder dem Monitor zu. »Außerdem ist Nabih kein beduinischer Name. Sie kennen nicht zufällig jemanden, der sich mit der Analyse alter Koranschriften auskennt, oder?«
Katya schüttelte langsam den Kopf. »Wenn das tatsächlich Leilas letzter Auftrag war, wäre es dann nicht ratsam, jemanden auf die Suche nach Herrn Nabih zu schicken?«
»Ich bin sicher, Osama kümmert sich drum, sobald er mit dem Exmann gesprochen hat.«
»Kann sich kein anderer drum kümmern?«
»Ich glaube, er hat keinen Mann mehr frei«, sagte Majdi.
Katya blickte wieder auf den Bildschirm. »Warum waren diese Fotos wohl unter Leilas Kommodenschublade versteckt?«, sagte sie nachdenklich. »Ich meine, warum sollte sie sie versteckt haben, wenn das Seiten aus einem alten Koran sind? Ihr Bruder ist doch kein Religionsfeind, oder?«
»Nein«, sagte Majdi. »Ich hab den Eindruck, dass er sehr religiös ist. Mal abgesehen davon, dass er ein Dessousgeschäft hat. Aber Sie haben recht, es ist eigenartig, dass sie sie versteckt hat. Vielleicht hatte sie einen Job angenommen, den ihr Bruder ihr aus irgendwelchen Gründen verboten hatte. Oder sie hat die
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