Totenverse (German Edition)
Vater ging aus dem Zimmer, und sie setzte sich sofort gerader hin.
»Es tut mir leid, dass ich nicht früher reingekommen bin«, sagte sie. »Ich hatte in der Küche zu tun.«
»Natürlich. Das verstehe ich.« Nayir sah verlegen aus, aber sie konnte nicht einordnen, warum. Fand er sie anmaßend, weil sie voraussetzte, dass er sie hatte sehen wollen? Oder war er bloß unsicher?
Verdammt , dachte sie, ich werde allmählich neurotisch .
»Ich hab mich nach dem Freund von deinem Onkel erkundigt«, sagte sie, stellte ihre Teetasse ab und beugte sich näher zu ihm. Er wich nicht zurück. »Der Rechtsmediziner hat nichts Verdächtiges gefunden. Anscheinend ist Qadhi an einem schweren Infarkt gestorben. Er hatte vorher schon zwei Herzattacken.«
»Tatsächlich?«
»Ja, und er nahm entsprechende Medikamente.«
Nayir blickte resigniert. »Vielen Dank, dass du dich erkundigt hast.«
Ihr Vater war noch immer weg; wahrscheinlich, so ihr Verdacht, ließ er sie absichtlich allein, allerdings mit der Bedrohung, dass er jeden Moment wieder hereinschneien konnte. Sie befürchtete, dass Nayir sich jetzt, da sie ihm erzählt hatte, was er hatte wissen wollen, jeden Moment verabschieden würde.
»Ich wollte dich was fragen«, sagte sie zögernd. Die Idee war ihr erst während des vorangegangenen Gesprächs gekommen. »Wir arbeiten gerade an einem neuen Fall. Eine junge Frau wurde ermordet am Strand gefunden.« Erfreut registrierte sie, dass er trotz seiner natürlichen Scheu, sich in das Leben fremder Frauen einzumischen, Interesse zeigte, also erzählte sie ihm alles, was sie über Leila Nawar und die wenigen Spuren wusste, denen die Polizei nachging. »Die Mordkommission hat natürlich alle Hände voll zu tun, und die Leute da haben nicht die Zeit, jede kleine Spur zu verfolgen.« Sie erwähnte nicht, dass sie hoffte, selbst als Ermittlerin tätig werden zu können. »Aber Leilas Bruder hat gleich nach ihrem Verschwinden eine Vermisstenanzeige aufgegeben, und er hat gesagt, sie hätte eine private Kunstsammlung fotografiert. Vielleicht ist das völlig unwichtig, aber ihr Auftraggeber ist unauffindbar. Es gibt eine Adresse, aber sonst nichts. Die Kunstsammlung, so wird vermutet, könnte auch Koranschriften enthalten. Ich würde diesen Typen wirklich gern ausfindig machen.«
»Versucht die Polizei das denn nicht?«, fragte Nayir.
»Na ja, es hat für sie nicht gerade oberste Priorität. Sie konzentrieren sich auf andere Spuren.« Sie stockte und holte Luft. »Ich hab gedacht – mit deinem Hintergrund und deinen Korankenntnissen …« Es war eine lahme Ausrede, das war ihr klar, aber er ging überraschend bereitwillig darauf ein.
»Ja«, sagte er. »Ich würde gern behilflich sein.« Sie sah eine Entschlossenheit in seinen Augen, die sie zuvor nicht gesehen oder vielleicht nur nicht wahrgenommen hatte.
»Würdest du mich zu dem Haus dieses Mannes begleiten?«, fragte sie. »Möglicherweise ist es eine Sackgasse. Ihm gehört die Immobilie, aber das heißt nicht, dass er dort wohnt. Trotzdem würde ich es gern versuchen.«
Nayir nickte. »Wann möchtest du dahin?«
»Morgen Mittag?«
»Ich könnte dich von der Arbeit abholen.«
Sie lächelte unwillkürlich.
Kurz darauf kam Abu wieder herein, und Nayir stand auf, um sich zu verabschieden. Er dankte ihnen für das Essen und die Unterhaltung, aber als Abu ihren Gast zur Tür bringen wollte, nahm Katya den Arm ihres Vaters und bugsierte ihn sachte in Richtung Küche. Sie würde Nayir selbst nach draußen auf die Straße begleiten.
Sie staunte ein weiteres Mal, weil er offensichtlich froh war, mit ihr allein zu sein. Schweigend gingen sie die Treppe hinunter.
Unten angekommen, wandte er sich ihr zu und sagte: »Ich war immer der Meinung, dass eigentlich du den Mord an Nouf aufgeklärt hast.«
Sie biss sich auf die Lippe und lächelte. »Wir haben das zusammen geschafft, erinnerst du dich?«
»Ja«, sagte er leise. »Ich erinnere mich an alles.« Sie meinte zu sehen, dass er errötete, aber sicher war sie nicht, weil er sich umdrehte und in die Nacht davonging.
17
Als Osama die Haustür öffnete, schlug ihm ein Höllenlärm entgegen – der Fernseher dröhnte, Frauen lachten, und sein dreijähriger Sohn Muhannad quietschte vor Vergnügen.
Der Salon der Frauen ging gleich von der Diele ab, und die Tür stand offen. Osama klopfte kurz an die Wand, um zu signalisieren, dass er zu Hause war, zog die Schuhe aus und legte sein Handy auf den Tisch im Flur.
Muhannad
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