Totenverse (German Edition)
schrecklich langweilig gewesen sein, wenn es sogar den lustigsten Mann im Haus zum Rückzug getrieben hatte.
Vor der Tür zum majlis blieb sie stehen. Sie hörte Lachen von drinnen, die laut prustende Heiterkeit ihres Vaters. Sie öffnete die Tür einen Spalt und sah, dass ihr Vater und Nayir auf den Sofas saßen, plauderten, lachten und den Rest von ihrem Tee tranken. Die Szene erfüllte sie mit einem jähen Zorn – und noch einem anderen, schlimmeren Gefühl, so etwas wie Trauer. Aber sie trug keinen Neqab und wollte nicht, dass ihr Gesicht sie verriet, also riss sie sich zusammen, stieß die Tür mit dem Fuß ganz auf und trat ein.
Sie verstummten. Nayir, dessen Gesicht eben noch einen herzlichen Ausdruck gehabt hatte, setzte sich aufrecht hin und blickte nervös. Sie konnte es nicht ertragen, daher sah sie ihren Vater an und bemerkte ein Glimmen in seinen Augen, das fast triumphierend war.
»Ich dachte, ihr möchtet vielleicht etwas Tee«, sagte sie und stellte das Tablett auf den Sofatisch.
»Wir hatten schon Tee«, sagte ihr Vater.
»Ach so«, erwiderte sie kühl.
»Danke«, sagte Abu. Sie beschloss, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen. Er konnte sie nicht einfach mit einem »Danke« abspeisen. Sie setzte sich auf das Sofa neben ihren Vater, beugte sich vor, um eine Tasse Tee einzugießen, und reichte sie ihm. Er lehnte ab, also wandte sie sich Nayir zu, der ebenfalls ablehnte. Meinetwegen , dachte sie und trank selbst einen Schluck. Zornesröte stieg ihr in die Wangen.
Nayir vermied es, ihr ins Gesicht zu schauen, aber sie spürte seine Aufmerksamkeit wie die sanfte Berührung hundert unsichtbarer Hände. Ihr fiel ein, dass er sie heute zum ersten Mal ohne ihren Umhang sah – noch dazu in Anwesenheit ihres Vaters –, und plötzlich schlug ihr Zorn in Furcht um. Das Gespräch war verstummt, und keiner der beiden Männer machte Anstalten, es wiederzubeleben. Sie konnte fast hören, was sie dachten. Wieso trägt sie keinen Umhang? Was will sie?
Das ist doch lächerlich , dachte sie.
»Was macht die Arbeit?«, fragte Nayir. Sie brauchte einen Sekundenbruchteil, ehe sie merkte, dass er sie angesprochen hatte, und ihr Herz platzte beinahe vor Erleichterung.
»Die macht Spaß«, sagte sie. »Ich fühl mich richtig wohl an meinem neuen Arbeitsplatz.«
Er nickte. Sie hatte sich zwar für den Abend eigentlich eine deutlichere Entschuldigung gewünscht, aber trotzdem besänftigte sie sein Interesse. »Und du? Hast du gut zu tun?«
Er zuckte die Achseln. »Eigentlich sollte ich jetzt gerade eine Wüstenführung machen, aber die Kunden haben abgesagt. Im Sommer ist nie viel los.«
»Ich hab Nayir gerade empfohlen, den Beruf zu wechseln«, sagte Abu. Katya war peinlich berührt, schämte sich aber umso mehr, als ihr einfiel, dass sie Nayir vor acht Monaten das Gleiche empfohlen hatte.
Nayir blickte amüsiert. »Dein Vater meint, ich sollte Korangelehrter werden.«
Katyas Magen drehte eine unangenehme Pirouette, weil Nayir ihr bei dieser Vorstellung weniger wie ein Mann erschien, mit dem sie je glücklich sein könnte. Sie brachte ein Lächeln zustande.
»Aber wenn er keine Lust hat, Gelehrter zu werden«, warf Abu ein, »sollte er ernsthaft überlegen, zur Polizei zu gehen. Immerhin hat er ja schon ein Verbrechen aufgeklärt.«
Nayir starrte auf Katyas Schuhe, als ob er ihr etwas sagen wollte, es aber nicht über die Lippen brachte. Sie selbst musste ihre Gefühle niederringen. Noch nie hatte ihr Vater etwas Vergleichbares zu ihr gesagt – dabei war es zum großen Teil ihr Verdienst gewesen, dass Noufs Mörderin überführt wurde, und schließlich verdiente sie ihr Geld damit, bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen.
»Ich muss zugeben«, sagte sie und blickte Nayir dabei an, »dass du einen prima Ermittler abgeben würdest.«
Die Männer setzten das Gespräch fort, das sie unterbrochen hatten, als sie hereinkam. Sie trank ihren Tee und hörte zu. Es ging um Politik. Sie staunte über den unbeschwerten Umgang zwischen den beiden. Das Lächeln ihres Vaters war kein bisschen aufgesetzt, und obwohl Nayir offensichtlich ein wenig nervös war, schien er seine Meinung unbefangen zu äußern.
Als die Unterhaltung erlahmte, stand ihr Vater auf und fragte: »Will jemand Wasser?«
»Nein, danke«, erwiderte Nayir mit einem Seitenblick auf Katya, die nur den Kopf schüttelte. Sie war völlig überrascht, dass ihr Magen Purzelbäume schlug, weil sie gleich mit Nayir allein sein würde. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher