Totenverse (German Edition)
eine schöne Überraschung!« Katya war sicher, dass ihre Stimme bebte. Sie begrüßte ihre Freundin mit Küssen, umarmte die Mädchen eins nach dem anderen und bat sie alle in ihr Zimmer. Aber ihre Gedanken überschlugen sich: Was machen die hier? Wieso hat Abu mir nicht erzählt, dass er sie eingeladen hat?
»Wir sind mit meinem Vater gekommen«, erklärte Donia und setzte sich vor die Frisierkommode. Katyas Magen schlug einen Salto. »Die Mädchen haben sich so darauf gefreut, ihre neuen Kleider anzuziehen.«
Katya bewunderte pflichtschuldig die Kleider und beteuerte, sie seien ganz reizend. Die Mädchen freuten sich offensichtlich, blickten aber nur kleinlaut zu ihrer Mutter hinüber.
Katya kannte Donia seit vielen Jahren. Ihre Väter hatten sich in der Moschee kennengelernt und waren Freunde geworden, weil sie beide im pharmazeutischen Bereich arbeiteten – ihr Vater als Apotheker und Abu-Walid an der Universität. Aber Katyas inzwischen verstorbene Mutter war immer der Ansicht gewesen, dass Abu-Walid einen negativen Einfluss auf ihren Mann hatte. Er war extrem fromm, und seine religiöse Einstellung machte sich peu à peu auch bei ihnen zu Hause breit. Nachdem Abu sich enger mit ihm angefreundet hatte, begann er, fünfmal täglich zu beten und all die ärgerlichen wahhabitischen Regeln zu befolgen, die zumindest nach Meinung von Katyas Mutter bloß eine vordergründige Demonstration von Frömmigkeit waren. Weil es verboten war, den eigenen Körper zu verändern, rasierte Abu sich nicht mehr. Er aß nur noch Fleisch, das halal war, und hörte auf zu rauchen. Er verlangte plötzlich, dass Katya und ihre Mutter einen Neqab trugen, wenn Freunde zu Besuch kamen. Katyas Mutter rief ihm in Erinnerung, dass er Libanese war, worauf er jedoch nur zornig erwiderte: »Ich bin Muslim!«
Donia betrachtete das offene Schminkkästchen auf der Frisierkommode, und Katya sah die Missbilligung in ihren Augen. Die Freundschaft der Väter hatte die beiden Frauen zusammengeführt, und durch pure Macht der Gewohnheit kamen sie seit vielen Jahren gut miteinander aus. Donia war das jüngste Kind in ihrer Familie, und da ihre sieben älteren Brüder nicht gerade sanft mit ihr umgesprungen waren, war sie so schüchtern, dass es schon fast an Sturheit grenzte. Gespräche mit ihr verliefen schleppend. Sie kochte gern, und ein sauberer Haushalt hatte für sie oberste Priorität. Nur selten gab sie mal ihren Gefühlen Ausdruck. Die meiste Zeit musste Katya die Ohren spitzen, um sie überhaupt zu verstehen.
Viele Jahre lang hatte Katya sie bemitleidet. Donia war lammfromm und scheinbar willenlos, die Art von Frau, die eine ultra-strenggläubige Familie natürlicherweise hervorbrachte. Erst als Katya älter wurde, hatte sie allmählich erkannt, dass Donia unter der sanften, bescheidenen Fassade in Wahrheit ziemlich durchsetzungsfähig war.
Katya plapperte schließlich nervös drauflos, erzählte von ihrer Arbeit im Labor und wie viel Spaß sie ihr machte. Sie sparte die Einzelheiten über Leichen und Mordfälle aus, weil sie die Kinder nicht verstören wollte, aber es gelang ihr, unaufhörlich weiterzureden. Währenddessen dachte sie hektisch nach. Donias Vater war jetzt im Salon der Männer, wunderte sich wahrscheinlich, warum Abu gekocht hatte, und machte Katya insgeheim Vorwürfe, dass sie es nicht übernommen hatte. Warum um alles in der Welt hatte ihr Vater ihn heute Abend eingeladen – und ohne was zu sagen? Sie fühlte sich hintergangen. Er ist nur nervös, weil Nayir kommt , dachte sie. Schließlich hatte Katya oft genug über Nayirs tiefe Religiosität gesprochen. Vielleicht dachte er, dass Nayir und Abu-Walid viele Gemeinsamkeiten hatten. Aber es gab auch eine weniger harmlose Erklärung für Abu-Walids Einladung: Mit ihm als weiteren männlichen Gast wäre nämlich die Geschlechtertrennung im Haus erforderlich. Jetzt würde Katya mit Donia und den Mädchen in der Küche essen, und die Männer würden im Salon bleiben, dem majlis . Sie konnte sich vorstellen, was ihr Vater dachte: Ja, Katya, du kannst deinen »Bekannten« zum Abendessen einladen, aber du wirst keine Gelegenheit haben, ihn zu sehen .
Sie gingen in die leere Küche, wo die Essenszubereitung zum Erliegen gekommen war. Donia schritt ohne Zögern zur Tat. Sie krempelte die Ärmel ihres Umhangs hoch und übernahm das Regiment. Die Mädchen setzten sich an den Küchentisch. Die Älteste bot sich an zu helfen, und ihre Mutter ließ sie Tomaten für den Salat
Weitere Kostenlose Bücher