Totenverse (German Edition)
theatralischen Demonstration von Ahnungslosigkeit die Hände ausgebreitet und achselzuckend den Blick gen Himmel geschlagen. »Wir haben uns nicht gut verstanden. Abgesehen von dem Gespräch, das ich eben erwähnt habe, hatten wir seit Monaten kein Wort miteinander gewechselt.« Wie sich herausstellte, hatte Bashir fast ein Jahr lang auf Kosten seines Bruders gelebt, und der Bruder hatte die Nase gestrichen voll gehabt. War es nicht schrecklich absurd, fragte Hakim, dass er seinen Bruder erst ein Jahr lang bitten musste – wohlgemerkt, nur bitten, denn den eigenen Bruder vor die Tür zu setzen war ein Ding der Unmöglichkeit –, sich eine anständige Arbeit und eine eigene Wohnung zu suchen, und ihn dann, nachdem Bashir nach einem geschlagenen Jahr endlich beschlossen hatte auszuziehen, anflehen musste, doch zu bleiben? Zu seinem eigenen Besten natürlich. Nur bis sie Leila gefunden hätten.
Hakim klagte ausgiebig darüber, was für ein Faulpelz sein Bruder geworden war. Er habe sich so verändert, dass er ihn kaum noch wiedererkennen würde. Er war so viel schlauer als sein Bruder, dass Osama sich beinahe fragte, wieso Hakim noch da war, wo Bashir doch die Klugheit besessen hatte abzuhauen. Aber die ganze Geschichte, das war Osama von Anfang an klar, war bloß ein ausgeklügelter Versuch, seinen Bruder unschuldig aussehen zu lassen. Angeblich hatte Bashir also gewusst, dass seine Exfrau vermisst wurde, dass die Polizei vielleicht kommen würde, um ihm Fragen zu stellen, aber das hatte ihn nicht interessiert, weil er ja unschuldig war und unschuldige Menschen sich nun mal so verhielten. Da sie sich nichts vorzuwerfen hatten, machten sie seelenruhig weiter, als wäre nichts geschehen.
Doch eines wusste Hakim nicht: Osama kannte diese ganze Leier zur Genüge.
Osama sah sich das Schauspiel stets mit einem vagen Gefühl von Bewunderung an, vor allem jedoch mit wachsendem Zorn. Aber, Herr Inspektor, ich hatte so gut wie keinen Kontakt zu … Bruder oder Onkel, Schwester oder Cousine, je nachdem, wen die Polizei gerade festnehmen wollte. Schließlich wusste jeder, dass die Polizei, falls ein Verdächtiger unauffindbar war, bedenkenlos einen Angehörigen in Sicherheitsverwahrung nahm, bis die gesuchte Person sich stellte. Deshalb versuchten Angehörige meist, ihre Familien als völlig zerrüttet darzustellen – Ehrlich, ich hab seit über einem Jahr nicht mehr mit meinem Vater gesprochen . Manchmal kam es Osama so vor, als gäbe es überhaupt keine glücklichen Familien mehr.
Sie hatten Hakim trotzdem festgenommen. Auf dem Präsidium hatten sie dann herausgefunden, dass Bashir Gastarbeiter aus Syrien und sein Visum sechs Monate zuvor abgelaufen war. Hakim regte sich auf. »Glauben Sie denn im Ernst, dass mein Bruder, dieser selbstsüchtige Mistkerl, sich stellt, wenn sein Visum abgelaufen ist? Glauben Sie, das würde der für mich tun?« Sein hohles Gelächter gellte Osama noch immer in den Ohren.
Osama hatte ihm ein Handy gereicht und ihn aufgefordert, seinen Bruder anzurufen. »Sagen Sie ihm, wenn er sich stellt, helfen wir ihm dabei, dass sein Visum verlängert wird. Natürlich nur für den Fall, dass er seine Exfrau nicht ermordet hat.«
Hakim hatte das Handy zurück über den Tisch geschoben. »Dafür ist er zu egoistisch. Dem kann ich sagen, was ich will, der hört nicht auf mich, garantiert nicht.«
Er war ziemlich gut, das musste Osama ihm lassen. Die meisten hätten sich das nicht zweimal sagen lassen und angerufen, aber Hakim blieb stur. Osama ließ ihn im Vernehmungsraum sitzen.
Der endgültige Schlag kam, als Osama ein letztes Mal zu ihm ging, um ihm erneut das Handy anzubieten. Hakim weigerte sich mit hochmütiger Miene. Als Osama sich zum Gehen wandte, rief Hakim ihm nach: »Mein Vater hat sich immer für Bashir geschämt, aber ich glaube, wenn mein Vater noch leben würde, Allah segne ihn, und jetzt hier wäre, dann würde er sich für Sie schämen.« Osama hatte sich nicht mal umgedreht, aber die Bemerkung hatte gesessen.
Nuha kam in die Küche und begann, die Teller mit Essen auszupacken, die auf der Arbeitsplatte für ihn bereitstanden. Als sie den Blick in seinen Augen sah, kam sie näher. »Der Fall muss schlimm sein, das seh ich dir an.«
»Er wird immer schlimmer«, sagte er.
»Das tut mir leid.«
Er packte ihr Handgelenk, zog sie auf seinen Schoß und küsste sie leidenschaftlich auf die Lippen. »Ich will nicht, dass Rafiq heute Abend kommt«, sagte er. »Ich will ins
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