Totenverse (German Edition)
kam angelaufen und umschlang die Knie seines Vaters. Osama hob ihn hoch und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Hast du mich vermisst?«, fragte er. Muhannad nickte wild, dann fing er an zu strampeln und wollte wieder runter, um gleich wieder in den Salon zu flitzen.
Weiter hinten ging eine Tür auf, und die Großmutter seiner Frau erschien. Sie bewegte sich mit langsamen Schlurfschritten, wie ein Aufziehspielzeug, und blickte sich mit großen, orientierungslos blinzelnden Augen um. Ihr Kopftuch war verrutscht, und ihr fast kahler Schädel, der nur spärlich von schütteren weißen Haarsträhnen bedeckt war, glänzte im Licht der Deckenlampe.
Er trat zu ihr, küsste sie auf die Stirn und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. Sie war taub, aber sie lächelte genügsam und zufrieden zurück, tätschelte ihm den Arm und schien bereits vergessen zu haben, was sie hier machte oder wohin sie wollte.
»Osama.«
Er wandte sich um. Hinter ihm stand Nuha in der offenen Tür zum Salon. Sie trug Jeans und ein dünnes kleines Oberteil, in dem Goldfäden glitzerten. Er wusste, dass sie sich extra für ihn so angezogen hatte, und er hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen, vor den Augen ihrer Großmutter hochgehoben und geradewegs ins Schlafzimmer getragen. Alles andere wollte er erst mal vergessen – das Abendessen, Muhannad, alle um sie herum und das Haus selbst, ein ziemlich großes Zweifamilienhaus, das sie sich mit seinen Schwiegereltern teilten. Er sah ihr an, dass sie dasselbe wollte und dass sie, obwohl sie mit ihren Cousinen oder Freundinnen gelacht hatte, gleichzeitig auch auf ihn gewartet hatte.
Sie ging an ihm vorbei. Ihr Duft weckte in ihm eine jähe und fast quälende Sehnsucht. Nuha nahm ihre Großmutter an die Hand und führte sie Richtung Salon. »Rafiq kommt gleich«, sagte sie über die Schulter. »Mit Mona.« Mona war Rafiqs Frau. An jedem anderen Tag hätte er sich über ihren Besuch gefreut, aber heute Abend war er nicht in der Stimmung dafür.
»Jidda«, sagte Nuha, obwohl die Greisin sie nicht hören konnte, »dein Kopftuch ist schon wieder verrutscht.« Sie richtete es und führte ihre Großmutter in den Salon. Über die Schulter rief sie Osama zu: »Ich komme gleich.«
Er ging in die Küche und setzte sich schwerfällig an den Tisch. Der Tag war deprimierend gewesen. Er hatte mit Faiza gesprochen. Sie hatte am Morgen Abdulrahmans Frau vernommen, und Abdulrahman hatte darauf bestanden, die ganze Zeit dabei zu sein. Faiza war zwar eine ausgezeichnete Beobachterin und durchschaute die vorsichtig respektvollen Antworten, die sie erhielt, doch Abdulrahmans Frau hatte wiederholt behauptet, es habe nie irgendwelche Spannungen zwischen Leila und den anderen Hausbewohnern gegeben.
Osama hatte da so seine Zweifel. Wenn eine Familie unter einem Dach lebte, waren gewisse Feindseligkeiten vorprogrammiert. Aber Faiza war die beste Vernehmerin, die sie hatten, und wenn sie in einer zweistündigen Befragung nicht mehr zutage gefördert hatte, dann waren sie vorläufig in einer Sackgasse gelandet. Er würde die Wahrheit über Leilas Lebensumstände von jemand anderem in Erfahrung bringen müssen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wer Zugang zu dieser Familie gehabt haben könnte, die von Abdulrahman so verbissen bewacht wurde.
Da ihm sein Instinkt sagte, dass er die Familie Nawar lieber ein Weilchen in Ruhe lassen sollte, hatte Osama sich auf die Suche nach Leilas Exmann Bashir gemacht. Zuerst hatte er es bei dem Mann zu Hause versucht, dort aber erfahren, dass Bashir in der Woche zuvor ausgezogen war. Dann hatten sie Bashirs Bruder Hakim ausfindig gemacht, der das Café im Erdgeschoss des Gebäudes betrieb, aber natürlich nicht da war. Den ganzen Tag waren sie durch die Stadt gekurvt, hatten an Adressen, wo er zuletzt gesehen worden war, Erkundigungen eingeholt. Nach sechs Stunden dann hatten sie ihn endlich gefunden – in seinem Café.
Anscheinend war Hakim schlauer als sein Bruder. Er war von Abdulrahman über Leilas Verschwinden informiert worden, woraufhin Hakim seinem Bruder geraten hatte, besser noch nicht auszuziehen. Sollte es je zu einer polizeilichen Ermittlung kommen, würde er sich dadurch nur verdächtig machen. Aber Bashir war eigensinnig. Er hatte seinen Umzug schon seit sechs Monaten geplant, da würde er sich doch von einer kleinen hypothetischen polizeilichen Ermittlung nicht davon abhalten lassen.
Wo er hingezogen sei?, wollte Osama wissen. Hakim hatte in einer
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