Totenverse (German Edition)
gefilmt.
Die vierte DVD, die Leila ins Laufwerk einlegte, war anders. Sie schloss sich nicht unmittelbar chronologisch an – zwischen der letzten und dieser war eine Lücke von zwei Monaten – und sie enthielt nur wenige Beiträge.
Der erste trug den Titel Sommer der Liebe . Gleich zu Anfang erschien eine Frau im Bild. Sie saß in einem sonnendurchfluteten Raum auf einer zartrosa Couch. An der Wand hinter ihr hingen Poster mit Audrey Hepburn. Die Frau trug einen modischen schwarzen Rock, Nylonstrümpfe, Stöckelschuhe und einen kurzen rosa Blazer, der ein wenig pariserisch anmutete. Ihr Haar war kurz, schwarz und wellig, und ihr hübsches, aber ein wenig hausbackenes Gesicht war viel zu dick mit weißem Make-up geschminkt. Katya vermutete, dass sie, um europäisch zu wirken, ihren Teint aufgehellt hatte.
Am unteren Rand des Bildes erschien der Schriftzug »Johara«, das Pseudonym der Frau, und die Worte Almasyaf Sawadsch . Sommerehe. Katya stöhnte auf. Die »Sommerferienehe« war ein widerwärtiges Arrangement. Ein Mann, meistens ein Geschäftsmann, ging den Sommer über eine Ehe mit einer Frau ein, damit er sie als Reisebegleiterin mit ins Ausland nehmen konnte – nach Ägypten, Europa oder Amerika. Dort traten sie als Eheleute auf. Am Ende des Urlaubs kehrte das Paar dann nach Saudi-Arabien zurück und löste die Ehe auf.
Katya hatte schon von Männern, die nach Ehefrauen für den Sommer suchten, entsprechende Suchanzeigen als Bluetooth-Nachricht auf ihr Handy bekommen, wodurch ihr erst recht vor Augen geführt wurde, wie obszön das gesamte Arrangement war. Die Anzeigen waren alle ähnlich. Männer suchten nach Frauen, die Englisch sprachen, einen hellen Teint hatten, schlank und sexy waren und aus guten Familien stammten. Die Bezahlung lag bei mindestens 100000 Rial plus eine neue Villa und manchmal einen fabrikneuen BMW. Besonders Letzteres ließ sie jedes Mal bitter auflachen. Einer Frau ein Auto zu schenken, unglaublich! Es war Prostitution, und nichts anderes.
Als das religiöse Establishment von diesem neuen Trend (der wahrscheinlich bloß ein alter, aber bis dahin wenig bekannter Trend war) erfuhr, billigte ein bekannter Religionsgelehrter diese Praxis öffentlich und erklärte auch, warum: Sommerehen waren im Islam akzeptabel, weil sie Männer davon abhielten, der Sünde der Prostitution zu verfallen, während sie viele Monate unbeweibt im Ausland verbrachten. Da war es wünschenswerter, dass ein Mann eine saudische Frau mitnahm, die zumindest Muslimin und seine Ehefrau war. Außerdem wies der Scheich noch auf ein tieferes Problem hin, dass nämlich so viele saudische Ehefrauen ihren Männern nicht mehr genug Zeit widmeten, weil sie außerhalb des Hauses berufstätig waren. Dadurch ergab sich zwangsläufig für die Männer die Notwendigkeit, ihre Bedürfnisse anderweitig zu befriedigen. Und wenn ein Geschäftsmann beruflich verreisen musste, dann war nichts daran auszusetzen, wenn er eine junge Frau mitnahm, falls seine Ehefrau nicht zur Verfügung stand, weil sie ja daheim bleiben und arbeiten musste.
Katya verspürte den ersten Anflug eines Gefühls, das heftiger war als bloß Ekel. Sie kannte absolut niemanden, der diese Art von Ehe befürwortete. Im Gegenteil, wenn das Thema zur Sprache kam, machten die meisten ihrer Freunde und Bekannten ihrem Zorn unverhohlen Luft, weil die Sommerehe in ihren Augen ein Skandal war, eine Herabsetzung sowohl des heiligen Ehegelübdes als auch des Islam. Die Reaktion des religiösen Establishments zeigte mal wieder, wie es den Koran missbrauchte, um seine eigene verzerrte Weltsicht durchzusetzen.
Johara blickte in die Kamera. Ihr Gesicht war eine Maske aus Make-up und noch etwas Stärkerem – Trotz oder Stolz. Leila bat sie, ihre letzte Sommerehe zu schildern, und Johara sagte, sie mache das jedes Jahr und sei froh, nur zwei Monate arbeiten zu müssen und den Rest des Jahres für sich zu haben, ihr Geld nach Lust und Laune ausgeben zu können.
Katya zwang sich, den Beitrag zu Ende anzusehen, die Selbstgefälligkeit im Gesicht der Frau zu erdulden, als sie Leila durch ihre Villa führte, ihr stolz die Teakholzbar präsentierte, die gewaltigen Buntglasfenster im Wohnzimmer und eine Küche, die aussah, als gehörte sie zu einem Restaurant, ganz zu schweigen von den drei luxuriösen Schlafzimmern, jedes mit einem breiten Bett und einem Schrank voller Kleider. Zwei kleine Chihuahuas sprangen ihr um die Füße. Eines musste Katya Leila lassen, sie
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