Totenverse (German Edition)
unverfälschte und heilige Wort Allahs, wie es dem Propheten Mohammed direkt übermittelt wurde …
Ein Gesicht erschien: Scheich Al-Arifi , erklärte die Bildunterschrift. In seinem Gewand, das blütenweiß und makellos war, sah er aus, als hätte ein Zuckerbäcker ihn mit Glasur überzogen und um Kopf und Hände genau die richtigen Ornamente gemalt. Die Haut wirkte unwirklich weich und rein (war er geschminkt?), und sein Bart war säuberlich gestutzt, mit einer bewussten Zerzaustheit am unteren Rand, einer vorgetäuschten Achtlosigkeit. Er sah gut aus – zu gut. Er hätte auf eine Hochzeitstorte gepasst. Als er das Wort ergriff, umhüllte ihn sein weicher melodischer Tonfall mit einer Aura sachverständiger Seriosität. Da sprach kein geifernder Irrer, sondern ein besonnener und wortgewandter Intellektueller.
»Der Koran ist unverfälscht«, sagte er. »Das gedruckte Buch unserer Tage ist exakt der Text, der dem Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, offenbart wurde. Das liegt daran, dass der Koran die wahren Worte Allahs enthält, und die sind ewig und unveränderlich.«
Er sprach, als ob er beim Abendessen mit seiner Familie zusammensäße und seiner Frau etwas Selbstverständliches erklärte: »Ja, natürlich springt der Motor an, sobald du den Zündschlüssel umdrehst. So funktionieren Autos, habibti .« Katya konnte nicht mal mehr die Augen verdrehen, so angewidert war sie.
Das Symbol in der Ecke verriet ihr, dass Leila diese Sequenz bei MEMRI TV geklaut hatte. Klar. Der eine Sender, der alles brachte, was den Islam lächerlich und absurd erscheinen ließ. Die Extremisten. Die konservativsten Scheichs. In dem letzten Beitrag, den sie bei MEMRI gesehen hatte, hielt ein Imam einen Vortrag über junge Frauen in Dänemark, die angeblich so pervertiert wären, dass sie regelmäßig Geschlechtsverkehr mit Eseln hätten.
Dann kam ein Schnitt, und ein ganz anderer Typ Mann erschien. Er war groß und blond und sonnengebräunt. Die Bildunterschrift identifizierte ihn als Apollo Mabus, Koranforscher . Er trug eine Kakihose und eine Safarijacke mit ausgebeulten Taschen und stand in der Wüste, als gehörte er dorthin: Hals und Gesicht staubverkrustet, große braune Augen, die in die grelle Sonne blinzelten. Heftiger Wind wirbelte Sandwolken auf und verlieh der Szene eine gewisse Eindringlichkeit. Er sprach ein weniger förmliches, völlig akzentfreies Arabisch:
»Die heutige Forschung stimmt überwiegend darin überein, dass der Koran nicht unverfälscht ist. Er ist nicht die vollkommene Verkörperung der Worte Allahs, denn ich kann Ihnen sagen –«, an dieser Stelle lachte er kurz, »– wenn dem so wäre, dann wäre Allah ein ziemlich schlechter Autor. Die Wahrheit ist, dass der Koran sachliche und grammatikalische Fehler enthält. Ein ganzes Viertel des Buches ergibt überhaupt keinen Sinn. Teile wurden umgeschrieben und aufgehoben und gekürzt. Der Koran steckt so voller Widersprüche und Fehler, dass sich die meisten intelligenten Muslime seiner schämen.«
In seiner Stimme schwang jene besondere Form von Mitleid, mit der Intellektuelle gern die irrationale Welt um sie herum betrachten. Ihr Ärmsten werdet nie begreifen, was Logik ist . Eine Art allwissende Überlegenheit, die absurderweise aus einer Unkenntnis der Kraft erwuchs, die Tradition und Glaube entfalten können. In Katya löste er mit dieser Haltung noch größere Verachtung aus als sein Vorredner.
Aus den Lautsprechern ertönte eine Rezitation, während Bilder von Koranschriften den Bildschirm ausfüllten. Katya erkannte sie – zumindest ähnelten sie stark denjenigen, die Majdi im Labor untersucht hatte. Sie glitten elegant von rechts nach links, während verblasste Bilder von Minaretten und städtischen Skylines die Lücken füllte.
Ein Begleitkommentar setzte ein. Katya erkannte Leilas Stimme.
Ist der Koran unverfälscht? Oder ist er das Ergebnis von Überarbeitungen und Manipulationen? Die Frage plagt muslimische Gelehrte seit Jahrhunderten, aber heutzutage müssen die mutigen Männer und Frauen, die diese Frage stellen, um ihr Leben fürchten. Schon allein die Andeutung, dass der Koran nicht unverfälscht ist, kann zum Vorwurf der Apostasie führen, des Abfalls vom Glauben, der mit dem Tod bestraft wird .
Katya stöhnte auf, als ein Filmausschnitt begann, der den inzwischen bekannten Universitätsprofessor Nasser Abu Zaid zeigte, wie er in einem Blitzlichtgewitter und bedrängt von Presseleuten aus einem Hotel geführt wurde.
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