Totenwache - Thriller
schimmernden Fenster am Ende des Korridors ließen den Gang wie einen Lichttunnel erscheinen. Riley fühlte sich unwillkürlich an den Flur erinnert, der im Rechtsmedizinischen Institut zu den Autopsieräumen führte: abgenutztes, matt schimmerndes Linoleum; die Ziegelwände im Laufe der Jahre mit so vielen Schichten glänzender Farbe bekleistert, dass die Konturen der Steine kaum noch auszumachen waren; die schweren Türstöcke durch zahllose Kollisionen beschädigt; an den Wänden merkwürdige
Papierfetzen. Hier an der Fairview-Grundschule hingen jedoch nicht etwa Fotos übel zugerichteter Verbrechensopfer oder Mahnschreiben des histologischen Labors an den Wänden, sondern Kreide- und Buntstiftzeichnungen.
Riley schüttelte den Kopf. Natürlich hatte sie schon im Voraus gewusst, dass sie als wissenschaftliche Assistentin in der Pathologie neben ihrer täglichen Arbeit noch zusätzliche Pflichten würde schultern müssen: Überstunden, Wochenenddienste, Papierkram und bürokratische Dinge, die der Job nun einmal mit sich brachte. Aber wieso musste ausgerechnet sie - eine Medizinerin mit fünfjähriger Facharztausbildung - in einer Grundschule einen Vortrag halten, den genauso gut eine der Hilfskräfte des Instituts hätte übernehmen können? Wieso hatte man ausgerechnet sie dafür eingeteilt …?
Dann flog plötzlich eine Klassentür auf. Ein kleiner Junge rannte sie fast über den Haufen und betastete sie wie ein Blinder, der gegen einen Pfahl gelaufen ist. Er legte ihr instinktiv die Arme um die Taille, bevor er begriff, was los war, und sah sie verlegen an. Riley blickte in seine schönen Augen und strich ihm das blonde Haar aus der Stirn.
»Ich muss ganz dringend auf die Toilette«, sagte er.
Riley sah ihn lächelnd an. »Dann nichts wie los.«
Er grinste. Riley hoffte auf eine weitere kurze Umarmung, doch dann war er auch schon an ihr vorbei und rannte den Gang hinunter.
»Wo finde ich Raum 121?«, rief sie ihm hinterher.
»Gleich die nächste Tür«, schrie er zurück. »Ms. Weleski.«
Riley klopfte an die dicke Glasscheibe. Eine sympathisch aussehende Frau sprang hinten im Klassenzimmer von einem Stuhl auf und öffnete ihr die Tür.
»Ms. Weleski? Ich bin Dr. Riley McKay vom Rechtsmedizinischen
Institut hier in Allegheny County. Sie hatten jemanden angefordert, der im Rahmen des Programms ›Krippen für Kleinkinder‹ zu den Schülern spricht.«
»Ja, ja.« Die Lehrerin fasste Riley am Arm und komplimentierte sie überschwänglich ins Klassenzimmer. Es war deutlich zu spüren, dass die Frau es seit zwanzig Jahren jeden Tag mit Siebenjährigen zu tun hatte. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich fürchte nur, dass wir ein wenig mit dem Zeitplan in Verzug geraten sind. Unser erster Referent hat sich etwas verspätet«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Er fängt gerade erst mit seinem Vortrag an.«
»Kein Problem, ich kann warten«, sagte Riley lächelnd und zwinkerte Ms. Weleski verschwörerisch zu. Dann quetschte sie sich neben der Lehrerin in eine Bank, streifte die Schuhe ab und fing an, ihre Knöchel zu massieren.
»Ich heiße Nick Polchak«, sagte ein Mann, der vorne im Klassenzimmer stand. »Ich bin von Beruf forensischer Entomologe. Kann mir jemand von euch sagen, was das ist?«
Schweigen.
»Na gut«, sagte Nick. »Und ein Entomologe - weiß einer von euch, was ein Entomologe tut? Ich gebe euch mal einen Tipp. Die Bezeichnung leitet sich von dem griechischen Wort entomos ab und bezeichnet Lebewesen, deren Körper in Segmente unterteilt sind …«
Immer noch Schweigen.
Als Riley aufblickte, sah sie einen groß gewachsenen Mann mit kräftigen Schultern und großen Händen. Er war so leger gekleidet, als ob er gerade auf dem Weg ins Stadion wäre, um sich dort ein Spiel der Pittsburgh Pirates anzuschauen. Riley hatte den Eindruck, dass er sich morgens eilig anzog und dann vollkommen vergaß, was er am Leib trug. Wenigstens braucht er sich an keine Kleiderordnung
zu halten, dachte sie. Er trug ein ausgewaschenes kariertes Hemd - die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt - darunter ein graues Penn-State-T-Shirt. Seine Shorts waren schon reichlich abgetragen und unten an den Rändern ausgefranst, doch - wie es schien - nicht etwa aus modischen Gründen, sondern weil sie völlig verschlissen waren. Seine ganze Erscheinung signalisierte: »Entscheidend ist nicht, wie ich aussehe, sondern was ich tue.« Riley musste lächeln. Recht hast du, dachte sie.
Dann bemerkte sie seine
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