Totenwache
nicht, aber wenn sie sie an die Türklinke hing, würde er verstehen, dass sie da gewesen war. Ivan hatte die Jacke vielleicht schon vermisst. Maria klemmte sie auf den Gepäckträger, nahm Linda zum Abschied in den Arm und fuhr los.
Die Luft war kühl. Die Sonne wärmte den Rücken. Die Brise von der See her duftete nach Tang. Die Möwen kreisten dicht über dem Boden. Maria bog zum Wald hin ab. Durch die Frische des Fahrwindes bekam sie eine Gänsehaut. Die Morgensonne sickerte durch das dichte Nadeldach des Fichtenwaldes und gab dem Moos dort, wo die Strahlen den Boden erreichten, eine leuchtend grüne Farbe. Hügelauf ging es langsam voran. Hin und wieder musste Maria im Stehen treten. Ihr Kondition war schlechter, als sie gedacht hatte, gedanklich war sie gut durchtrainiert gewesen. Es war nicht viel Verkehr. Der Abstand zwischen den Häusern wurde größer. Maria ließ ihren Gedanken freien Lauf, aber andauernd kamen sie auf Rosmarie Haag zurück. Heute sollte sie freigelassen werden. Wohin? Eine Gefangenschaft gegen eine andere eintauschen. Am besten war es, wenn sie sich mit dem Frauenhaus in Verbindung setzte, vielleicht konnte sie dort wohnen, bis Clarence gefunden war. Sie brauchte so dringend die Unterstützung anderer, die Ähnliches erlebt hatten. Es ist schwer zu verstehen, dass eine Frau sich damit abfindet, geschlagen zu werden, wenn man es nie selbst erlebt hat. Wahrscheinlich geht dem eine lange Zeit der psychischen Misshandlung und der strengen Kontrolle voraus, bis das Selbstwertgefühl schließlich verloren geht und alle konstruktiven Kontakte zusammenbrechen. Wie viele der misshandelten Frauen glauben, dass es ihr eigener Fehler ist, wenn sie geschlagen werden? Dass es an ihrer eigenen Unzulänglichkeit liegt, in einer Partnerschaft zu funktionieren, dass die Tortur aufhört, sobald sie ihrem Peiniger gehorchen. Zu Anfang lieben sie den Mann sicherlich und interpretieren alles zu seinem Vorteil. Die gefühlsmäßige Bindung macht sie verwundbar und formbar.
Maria dachte an ihr eigenes Leben. Es war kurz davor gewesen, dass sie selbst in eine solche Situation geriet, schrecklich nahe. Vor der Zeit mit Krister war sie mit einem Mann verlobt gewesen, der das Unglück ihres Lebens hätte werden können, wenn die Verbindung noch eine Weile gehalten hätte. Er hatte sie wie einen Collie herumgeführt. Nur Dank Karin war sie mit dem bloßen Schrecken davongekommen. Kaum auszudenken, wenn sie schwanger geworden wäre. Wie hätte sich das Leben dann gestaltet? Maria schüttelte den Gedanken ab. Wie oft hatte sie misshandelte Frauen vernommen, die davon ausgegangen waren, dass alle Frauen Schläge von ihren Männern bekamen! Dass so etwas völlig normal war. Maria sah eine Frau vor sich, die ihr misstrauisch ins Gesicht gelacht hatte, als sie ihr klar machen wollte, dass sie selbst nicht eine einzige Ohrfeige von Krister bekommen hatte. So etwas war in der Vorstellungswelt jener Frau nur dummes und überhebliches Gerede.
Ein tiefer Waldsee blinkte zwischen den Bäumen neben dem Weg. Geisterhaft schwarzes Wasser unter dichten Fichten. Blaubeerkraut breitete sich über Hügel aus und verband sich mit Wellen aus hellgrünem Moos. Maria konnte sehen, dass die Beeren schon blau zu werden begannen. Die Landschaft öffnete sich zu Rapsfeldern und Koppeln. Weit vor sich konnte sie bereits die roten Ställe mit den Nerzkäfigen sehen. Der Bach aus dem Waldsee floss ein Stück weit neben dem Weg her, um dann eine scharfe Biegung in Richtung auf das Häggsche Haus zu machen. Ein Taubenschwarm kreiste über Ivans Hausdach und flog dann nach Süden davon. Der Wind blies leicht über das flache Land. Ivans Zeitung hing noch im Briefkasten. Die konnte sie den Weg hinauf mitnehmen und an der Türklinke festklemmen. Wenn er immer noch Schmerzen im Fuß hatte, war es ja nicht nötig, dass er zur Landstraße hinuntergehen musste. Maria quälte sich den Hügel hinauf und bog zu Ivans Haus ab. Sie lehnte das Rad gegen die Hauswand und nahm die Jacke vom Gepäckträger, legte sie sich über die Schulter und ging um den Giebel herum zum Haupteingang. Dort blieb sie stehen. Die Treppe war voller Glasscherben. Mehrfarbiges zerbrochenes Glas wie ein beschädigtes Kaleidoskop. Jede Scheibe war herausgeschlagen. Die Tür war nur angelehnt. Auf der Schwelle befanden sich Blutspuren. Einige wenige bedrohliche Tropfen auf dem dunklen Eichenholz.
»Ivan, bist du da? Ivan!« Hatten ihm die Tierschutzaktivisten erneut zugesetzt?
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