Totenwache
Luke. Maria schluckte ihre Enttäuschung runter. Einen kurzen Augenblick hatte sie gehofft, dass Rettung nahe war.
»Her mit der Mundharmonika, Gustav.«
»Aber die hast du mir doch geschenkt, Ivan. Du bist doch mein Freund. Jetzt bist du richtig doof, ich mag dich aber trotzdem. Ich weiß, dass du nett sein willst, obwohl dir manchmal die Finger zittern. Und einmal, als du gegen die Nerzkäfige getreten hast, waren deine Beine böse, aber das macht nichts. Wir sind doch Freunde, nicht?«
»Halt die Schnauze und gib mir die Mundharmonika«, feuchte Ivan mit unsicherer Stimme.
»Okay, also du kannst sie ein bisschen haben. Ich kann dir zeigen, wie man darauf spielt, wenn du willst!«
»Was ist mit Maria?«
»Die schläft und schläft.« Gustav streichelte Maria die Wange.
»Was willst du tun, Ivan?«, flüsterte Maria kaum hörbar und hob vorsichtig den Kopf.
»Aha, du lebst jedenfalls. Du bist zäher, als ich gedacht hatte.«
»Rosmarie hat dir nichts Böses getan. Sie liebt dich, Ivan. Aber du bist nicht zurückgekommen. Sie hat geglaubt, du seiest tot.«
»Halt die Klappe!«
»Sie ist von Clarence misshandelt worden. Er hat den Kräutergarten vor der Pleite gerettet. Sie ist von ihm abhängig, aber sie liebt ihn nicht!«
»Das habe ich gesehen, als ich in deren allerheiligstes Schlafgemach geguckt habe«, entgegnete Ivan, und seine Stimme troff vor Bitterkeit.
»Das war eine Vergewaltigung, Ivan. Du hast die blauen Flecken auf ihren Armen und am Hals nicht gesehen. Lass sie dir zeigen!«
»Du lügst, du verdammtes Luder«, schrie Ivan, und sein Gesicht verschwand von der Luke.
»Ivan, lass uns raus!«, bat Maria mit tränenerstickter Stimme.
40
Mit einer zusammengerollten Wildlederjacke unter dem Kopf erwachte Tomas Hartman auf dem Fußboden seines Büros, nachdem er fast drei Stunden lang unruhig geschlafen hatte. Der Teppichboden roch nach Staub und säuerlichen Strümpfen. Hartman stützte sich auf die Ellbogen und versuchte, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen. Der Kopf schien vor Müdigkeit beinahe zu platzen. Er warf einen Blick auf die Uhr und war schlagartig hellwach. Seit beinahe achtundvierzig Stunden war Maria Wern jetzt verschwunden. Die Unruhe packte ihn mit aller Gewalt. Versetzte ihm einen Schlag auf das Zwerchfell. Das übliche Brennen bei zu wenig Schlaf, Stress und zu viel Kaffee machten sich bemerkbar.
Hartman fühlte sich unwohl und sein Kopf war leer. Zwei Tage gesucht und kein Resultat. Maria war wie vom Erdboden verschwunden. Nicht eine Spur. Keine Zeugen. Niemandem war eine blonde Frau Mitte dreißig aufgefallen, die auf der Küstenstraße in die Stadt geradelt war. Und das Fahrrad war auch verschwunden! Marias Ehemann war völlig aufgelöst. Bei der Kriminalpolizei des gesamten Bezirks war die Hölle los.
Hartman richtete sich auf. Die Muskeln schmerzten vor Müdigkeit und wegen der ungewohnten Schlafstellung. Die Augen brannten wie nach einem Rugbywettkampf auf Sandboden. Er ging hinaus auf die Toilette und wusch sich den Kopf mit kaltem Wasser. Wischte sich, weil nichts anderes da war, mit ein paar Papierhandtüchern über den Schädel und ging in den Aufenthaltsraum.
Die ersten Purpurstrahlen der Morgendämmerung fielen durch das Fenster und beleuchteten Arvidssons rote Tolle. Er saß stoppelbärtig und bleich am Fenstertisch über seine Kaffeetasse gebeugt.
»Ich habe für dich gleich Kaffee mitgekocht. Ganz frischen.«
Schweigend machten sie sich über ein paar trockene Zwiebäcke her. Es war schon merkwürdig, Arvidsson ohne eine Tageszeitung am Tisch sitzen zu sehen.
Hartman dachte an seine Tochter. Er empfand Erleichterung, aber keine Freude. Als sie schließlich den Ernst der Lage einsah, hatte sie ihre Verschlossenheit aufgegeben und von der Neujahrsnacht und der Explosion in der Schlachterei gesprochen. Sie war mit den anderen nur mitgegangen, ohne zu begreifen, was da geplant war. Die hatten sie gebeten, weiter weg stehen zu bleiben. Sie gab sogar zu, dass sie Angst bekommen hatte. Staatsanwalt Stefan Berg hatte erklärt, dass sie wohl um eine Gefängnisstrafe herumkommen würde, aber mit einer Geldstrafe oder irgendeiner Form von Sozialdienst musste sie rechnen. Marianne hatte vor Erleichterung geweint, aber Hartman konnte sich nicht recht freuen, nachdem jetzt Maria Wern verschwunden war. Mitten in all dem Durcheinander hatte Ragnarsson sich krank ins Bett gelegt. Niemand bedauerte ihn. Er hatte einen Schnupfen, nicht eigentlich Fieber,
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