Totenwache
müde. Er wollte ein Fernsehprogramm zu Ende sehen und dann allein Licht ausmachen und hinaufgehen, wenn das Fernsehen zu Ende war.«
»Ist er früher schon mal weg gewesen, verschwunden, ohne zu sagen, wohin er gehen wollte?«
»Nicht seit seiner Kindheit. Als meine Frau starb, war er zwölf Jahre alt. Damals war er einen ganzen Tag lang weg. Ich habe ihn oben in der Kirche gefunden. Er lag vor dem Altar und schlief. Er wollte wissen, was sie mit der Kiste gemacht hatten, in der seine Mutter lag und schlief. Er wollte, dass sie wieder mit nach Hause kam. Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass sie eingeäschert worden war. Der Pastor hat ihm erklärt, dass der Körper nur eine Schale ist, die man auf der anderen Seite nicht mehr braucht, dass man die Schale eingräbt, um das Kleid zurückzugeben, das man von der Erde geliehen hat, um hier darin zu leben. Das hat er verstanden.«
»Wissen Sie, ob er sich gerade jetzt über irgendetwas aufgeregt hat? Etwas, das er gesehen oder gehört hat? Worüber haben Sie am Abend, ehe Sie ins Bett gingen, mit ihm gesprochen?« Egil trocknete sich unbeholfen die Augen und rieb seine Nase mit dem Hemdsärmel.
»Wir haben von Jacob gesprochen. Das haben wir jetzt jeden Abend getan. Gustav und Jacob führten lange Gespräche über alles Mögliche: das Leben, den Tod und wie es mit dem Kautabak wird, wenn die Kerle von der EU erst bestimmen dürfen. Viele hier trauern um Jacob, aber für Gustav war er etwas ganz Besonderes. Der Großvater, den er nie gehabt hat. Wo kann der Junge sein? Kann er sich verirrt haben? Gustav muss regelmäßig Medizin einnehmen. Er hat einen Herzfehler und ist Epileptiker. Er stirbt vielleicht! Ich habe schon öfter gedacht, dass ich länger als Gustav leben will, damit ich mich um ihn kümmern kann. In der letzten Zeit bin ich mir langsam darüber klar geworden, dass einer den anderen braucht.«
Egil begann wieder zu zittern, und Hartman ging hinaus, um ihm eine Tasse Kaffee zu holen.
»Wo wohnen Sie?« Hartman zeigte auf die Karte, die er auseinander gefaltet auf seinem Tisch liegen gelassen hatte. Mit einer kräftigen und schmutzigen Faust fuhr Egil die Landstraße entlang bis in den Wald hinein.
»Dort, dort wohnen wir, genau an dem Bach.« Hartman versuchte ein peinliches Gähnen zu unterdrücken und rieb sich die Augen. Wenn Maria den Weg durch den Wald gefahren war, musste sie an Häggs Haus vorbeigekommen sein. Das war die einzige Möglichkeit, auf dem Weg in die Stadt den Bach zu überqueren. Ab dieser Kreuzung konnte sie das letzte Stück in die Stadt auf der Landstraße gefahren sein. Das war eine denkbare Alternative.
Krister starrte auf eine gepunktete Bettdecke, die er noch nie gesehen hatte. Die Tapete, die ihn von allen Seiten umgab, war hellblau mit kleinen hysterischen weißen Wolken und Giraffen. Ganz bestimmt nicht die Tapete, die er in seinem und Marias Schlafzimmer geklebt hatte. Hellwach richtete er sich auf und hörte neben sich ein schniefendes Geräusch, da lag jemand neben ihm eingerollt in eine ebensolche gepunktete Bettdecke, wie sie über seinen Knien lag. Eine braune Haarlocke schaute am Kopfkissen heraus. Krister begann zu schwitzen. Ihm war übel, und reumütig ließ er sich zurück in die Kissen fallen.
Maria! Die Kinder waren bei der Großmutter. Die Realität umgab ihn wie ein feinmaschiges Netz und ließ ihn nicht entkommen. Maria! Liebe Maria! Was hatte er getan? In all seiner Schäbigkeit Trost gesucht? Er hatte es nicht mehr ausgehalten, allein zu Haus zu sitzen und die ständigen Fragen der Kinder beantworten zu müssen. Die Großmutter war erschienen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Tütenweise Süßigkeiten. Billige Süßigkeiten, giftgrün, knallrot und blau. Schaumteddys. Saure Zungen! Er hatte seiner Mutter gehörig die Meinung gesagt, zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben hatte es einen heftigen und unerfreulichen Streit gegeben, ohne dass er eingelenkt hatte. Alle Angst um Marias Schicksal hatte beim Anblick der grellbunten Süßigkeiten das Fass überlaufen lassen. Warum hatte sie den Kram gekauft, wo sie doch wusste, dass Maria das nicht wollte? Respektlos! Gudrun Wern war so überrumpelt, dass sie sich eine Weile hinlegen musste. Dann rief sie Artur an, ihren Ritter. Als er schließlich kam, herrschte so dicke Luft, dass Krister es keine Sekunde länger aushielt. Er war mit dem Auto in die Stadt gefahren.
»Mach jetzt keine Dummheiten.« Ein väterliches Klopfen auf die Schulter. Er war zu
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