Totenwache
abnehmen? Kann man das glauben? Das Beste wäre natürlich, wenn jemand, der den Angehörigen von früher her kennt, diese schwere Aufgabe übernimmt. Aber das kommt fast nie vor. Manchmal erhielt man von der Polizei aus einer ganz anderen Gegend des Landes den Auftrag, Angehörigen in Kronköping die Nachricht von einem Todesfall zu überbringen.
Trotzdem ist die Mitteilung nicht das Schwerste. Am allerschwierigsten ist es, denjenigen, den man mit der traurigen Nachricht erschüttert hat, allein zu lassen. Wenn es keinen guten Freund gibt, der kommen und Beistand leisten kann. Man fühlt sich irgendwie schuldig. Fühlt sich verpflichtet, die alte Harmonie und Ausgeglichenheit wieder herzustellen. In unserer hoch effektiven Gesellschaft darf Trauer sich nicht ausbreiten. Darf kein Platz und keine Zeit für Trauer sein. Am liebsten soll der Trauernde am nächsten Tag wieder an seinem Arbeitsplatz sein und seine Aufgabe gut machen, mit Medikamenten oder ohne. Ist das nicht möglich, kann der Betreffende krankgeschrieben werden, am schlimmsten mit der Diagnose »psychisch insuffizient«, psychisch unzulänglich. So, als ob Trauer eine unnatürliche Art darstellt, auf einen Todesfall in der Familie zu reagieren. Der Tod ist in unserer Kultur etwas so Fremdes geworden, dass wir nicht wissen, was wir sagen sollen oder was wir tun können, wenn jemand von einem Verlust betroffen ist. Es gibt Menschen mittleren Alters, die noch nie einen Toten gesehen haben. Man stirbt im Verborgenen im Krankenhaus oder – wie in Mårten Normans Fall – man wird in einem schwarzen Plastiksack abtransportiert, damit niemand sich von so etwas ganz Natürlichem wie dem Tod unangenehm berührt fühlen muss.
Lilly Norman sagte gar nichts. Der magere stramme Körper schien sich beinahe zu entspannen, als Maria ihr Anliegen vortrug. Sie sah aus wie ein kleiner verletzter Vogel, wie sie da mit ihrem Gipsbein und dem Gesicht voller blauer Flecken in ihrem Rollstuhl saß. Maria schob einen Stapel mit Krankenhauswäsche zur Seite und ließ sich auf dem einzigen verfügbaren Stuhl nieder, um ihr Auge in Auge gegenübersitzen zu können.
»Ein Fischer hat ihn im Wasser dicht unterhalb von Kronholmen gefunden.«
Lilly blickte eine ganze Weile aus dem Fenster. In ihren Augen glänzte es, und eine Träne fand ihren Weg über die dünne Haut ihrer Wange, dann noch eine. Maria saß mit den Händen auf den Knien still da und wartete. Sie nahm die Geräusche um sie herum wahr. Der Essenswagen donnerte vorbei. Porzellan klapperte. Das Murmeln von Stimmen.
»Er war so ein lieber Junge. Fleißig in der Schule. Fröhlich und hilfsbereit. Manchmal ein bisschen ungezogen, wie Jungen eben sind. Alles, was ich mir damals für unsere Zukunft versprach, war erreichbar. Wir konnten keine eigenen Kinder kriegen. Mårten war adoptiert. Sehnlicher als er kann kein Kind erwartet worden sein. Alles wollten wir ihm geben. Wir waren so stolz, als er nach Hause kam und erzählte, dass er für die UNO-Schutztruppe auf Zypern ausgewählt worden war. Er sah so chic in seiner Uniform aus. Es war romantisch und zugleich rührend, wie Anita Lindblom im Radio sang: ›Krieg und Tod im fernen Land. Tränen und Hunger, ein Land im Feuer. Aber mit seiner blauen Baskenmütze steht ein schwedischer Soldat im Schein einer Handgranate da.‹ Wenn wir es nur besser gewusst hätten! Er war zu empfindsam, Mårten. Geriet in schlechte Gesellschaft. Vielleicht hat er die ganze Zeit über Angst gehabt. Manchmal habe ich überlegt, ob er unseretwegen gefahren ist, damit wir stolz auf ihn sein sollten. Um uns zu beweisen, dass er erwachsen war, ein richtiger Mann. Er hätte es nicht tun müssen. Vielleicht wäre alles anders geworden, wenn er nicht gefahren wäre. Als er nach Hause kam, war er so verändert. So furchtbar verändert. Mir gegenüber war er völlig verschlossen. Bei der Trauerfeier für seinen Vater stahl er Geld aus meiner Handtasche, die 15000, die ich abgehoben hatte, um die Kosten zu bezahlen. Die wollte er nur für kurze Zeit leihen. Das war der Anfang. Gott, wie schwer war das zu begreifen und zu ertragen. Was glauben Sie, wird er in die Hölle kommen?«
»Ich glaube, dass er die Hölle hinter sich hat.«
»Das ist richtig. Bleibt nur die Frage, ob man sagen kann, dass es sein freier Wille war. Ich weiß, dass er mich eigentlich liebt … mich liebte, und trotzdem wurde er gezwungen, mich zu verletzen, mich zu schlagen, um Geld für seine Sucht zu bekommen. Ich habe nie
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