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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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Neulich, als sie raufklettern und eine Glühbirne auswechseln wollte, war es das Gleiche. Sie ist gefallen und hat sich verletzt. Und der Sohn, dieser Taugenichts, hilft ihr auch nicht. Nicht einen Handschlag tut der für seine alte Mutter. Rennt nur hier rum und leiht sich Geld. Mich hat er auch anzupumpen versucht, aber bei mir kommt er damit nicht durch. Lily war mit dem Jungen immer zu lasch. Das sage ich und dazu stehe ich«, erklärte die Nachbarsfrau und unterstrich ihre Behauptung mit einem kräftigen Nicken.

    Auf dem Weg zum Empfang des Krankenhauses kam Maria am Kiosk vorbei. Als sie die Regale mit Schokolade, Obst und Tüten voller Süßigkeiten sah, merkte sie plötzlich, wie hungrig sie war. Das Mittagessen war mal wieder ausgefallen. Nicht einmal eine Tasse Kaffee bei dem alten Jacob hatte sie getrunken, obwohl sie sich darauf schon gefreut hatte. Ein intensives Verlangen nach Schokolade machte sich in dem leeren Magen bemerkbar, es war ganz einfach nicht zu unterdrücken. Dunkle Schokolade mit mindestens 72 Prozent Kakao, gern bittere, oder kleine wunderschöne Nougatkugeln, die langsam im Mund schmelzen, oder gefüllte Pralinen oder belgische Meeresfrüchte. Am liebsten alles auf einmal.
    Nachdem Maria Schokolade für 85,50 Kronen verdrückt hatte, fiel ihr die kleine Ninni ein, die hatte sicher kein Gramm Fett mehr am Körper, als was in den BH passte, keine Schwangerschaftsfalten auf dem Bauch und keine Narben auf der Seele, die ihrem Tatendrang Grenzen setzten. Darum kaufte sich Maria eine Banane, die aufzuessen sie nicht mehr schaffte, und die sie deshalb in ihren kleinen schwarzen Rucksack gleiten ließ, um kommenden Attacken von Gefräßigkeit vorzubeugen. Übrigens war es Ninnis Schuld, dass sie die Schokolade hinuntergeschlungen hatte. Sie war es gewesen, die Maria aus dem Gleichgewicht gebracht und ihr die Laune verdorben hatte. Da hilft nur Schokolade. Viel Schokolade. Leider schwindet der Erfolg mit dem Sättigungsgefühl langsam, um schließlich ganz vom Schuldgefühl verdrängt zu werden. Immerhin hatte sie 85,50 aus der schmalen Familienkasse für Schokoladenmissbrauch verwendet. Denn als Missbrauch muss es bezeichnet werden, wenn man gute Schokolade einfach so in sich hineinschlingt. Die einzig sinnvolle Art ist doch, Schokolade in ganz kleinen Stückchen in den Mund zu nehmen und sie langsam auf der Zunge schmelzen zu lassen. Dann reichen ein, höchstens zwei Stück, und man erreicht den größtmöglichen Genuss.
    Im Flur vor den Fahrstühlen hing ein großer Spiegel. Maria machte auf der Stelle kehrt, als sie ihr Spiegelbild sah, schnitt wegen ihres unansehnlichen Anblicks eine hässliche Fratze und nahm die Treppe zur chirurgischen Station, auf der Lily Norman lag. Langsam ging sie Stufe für Stufe hinauf, um Zeit zu gewinnen und sich auf das Gespräch mit der Mutter des Toten vorzubereiten.
    Es ist immer schwer, eine Todesnachricht zu überbringen. Auf dem Weg in den fünften Stock überlegte Maria, wie sie sich am besten ausdrücken sollte. Es ist vielleicht eine der schwersten Aufgaben für einen Polizisten. Auf der Polizeischule wurde man nicht darin ausgebildet, wie so etwas rein praktisch zu handhaben war. Zu Anfang musste man zuhören, wie ältere Kollegen so etwas formulierten, es dann nachmachen oder ablehnen: »Ich bin von der Polizei. Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn verstorben ist.« Schwer, eine Formulierung zu finden, die dem Anlass entsprach, ohne allzu hochtrabend zu klingen: »Maria Wern, ich bin von der Polizei. Können wir uns irgendwo hinsetzen, wo wir ungestört miteinander reden können? Ich habe eine traurige Nachricht. Ihr Sohn ist ertrunken.« Erst gestern hatte Maria im Radio gehört, dass nur sieben Prozent der Kommunikation durch das gesprochene Wort vermittelt werden. Körpersprache und Tonlage haben einen viel höheren Stellenwert; Wärme und Wohlwollen spielen eine große Rolle, auch wenn das etwas verworren klingt. Natürlich hatten sie in der Schule einiges über Alltagspsychologie und Krisenreaktionen gehört, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie auch nur einen blassen Schimmer davon hatten, wie jemand reagieren würde. Manche Angehörigen verhielten sich steif, stumm und verschlossen. Manche weinten leise, andere wieder wurden rasend aggressiv und warfen mit Beschuldigungen um sich. Wie reagiert man, wenn jemand kommt und einem sagt, dass der eigene Sohn tot ist? Jemand, den man nicht kennt. Kann man ihm das

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