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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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auch sonst noch nie nach Duvenstedt begleitet habe. Sören fragte sich erneut, was die beiden verband. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er seine Freundin, Verlobte oder wie auch immer ihr Verhältnis zu bezeichnen war, alleine zu einem solchen Verein gelassen hätte, wo sie sich vor den Augen anderer Männer nackt zur Schau stellte.
    Etwas verunsichert fragte er, ob es so etwas wie einen Verhaltenskodex oder etwas Vergleichbares gebe, aber Liane Kronau lachte nur. «Nein», sagte sie, «man ist einfach nur nackt.» Es klang, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Was es, aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ja auch war, aber je mehr Sören darüber nachdachte, umso mehr kam er zu der Feststellung, dass dies wohl nur die wenigsten Menschen so sahen.
    Er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, der immer mehr abnahm, je weiter sie sich von der Stadt entfernten. Liane sprach über ihren zu erwartenden Auftritt bei Hagenbeck, wo sie eine Indianerin spielen sollte. «Ich brauche mich dank meiner dunklen Hautfarbe ja nur wenig zu schminken und meine Haare nicht zu färben. Es spielen auch zwei richtige Indianer mit, die Hagenbeck aus Amerika geholt hat, und wie ich sehen konnte, ist der Unterschied gar nicht so groß. Die Indianer sind nur viel kleiner als wir, und sie blicken immer so finster drein. Aber das liegt nicht an ihrem Wesen, die Rasse der Sioux hat nur eine andere Kopfform und ganz wulstige Lippen, sodass es immer so ausschaut, als wären sie verärgert. Dabei sind sie ganz freundlich und mitteilsam, was ihre Kultur betrifft. Bei der Völkerschau soll ja alles möglichst echt wirken, die Tänze, die Musik und die Rituale. Es wird verschiedene Aufführungen geben, etwa Kriegsspiele oder einen vorgetäuschten Pferdediebstahl, auch ein Überfall auf eine Blockhütte soll nachgestellt werden. Am faszinierendsten finde ich es, wie sie mit dem Lasso umgehen können und wie sicher sie sich auf einem Pferderücken bewegen. Anfangs hatten sie ziemlich Respekt, weil die hiesigen Pferde ganz anders sein sollen, und vor allem größer. Aber bei den Proben ging es schon ganz gut. Ich spiele eine Squaw, die von Weißen entführt wird. Das wird bestimmt köstlich …» Sie lachte herzhaft. «Natürlich müssen wir bei der Aufführung so einige Zugeständnisse machen, zum Beispiel bei den Tänzen. Da sind wir nicht ganz so nackt wie die echten Indianerfrauen. Ich habe es zwar angeregt, aber Hagenbeck fand das dann doch unziemlich und frivol, weil wir ja in Wirklichkeit keine echten Indianer wären. Also tragen die Frauen alle ein ledernes Oberteil, was auch seine Reize hat. So richtig mit dem Busen wackeln kann ich ja so oder so nicht.»
    Ihr ursprüngliches Vorhaben, die Fahrt nach Duvenstedt auch dafür zu nutzen, die weitgehend noch ländlichen Gebiete nach einem passenden Grundstück zu erkunden, geriet vollkommen in Vergessenheit. Mathilda und Liane unterhielten sich angeregt, und Sören hing mehr und mehr der Frage nach, was sie in Duvenstedt erwartete. Durchmischt mit Lianes Schilderungen von volkstümlichen Indianertänzen hatte er eine wilde Horde nackter Menschen vor Augen, die zu martialischen Klängen um eine Feuerstelle herumhopsten, eine wollüstige Fleischbeschau, deren einziger Zweck darin bestand, die animalischen Instinkte der Urvölker über die sittlichen Regeln des zivilisierten Lebens siegen zu lassen. Ihn schauderte.
    Von Duvenstedt aus ließ er sich von Liane den Weg beschreiben und lenkte den Wagen vorsichtig über holperige Feldwege, bis sie schließlich zu einem Waldstück kamen und der Weg durch einen Schlagbaum versperrt wurde. Ein Schild am Waldweg hieß die Besucher willkommen: «Privatgrundstück/Sonnenanbeter-Lebensreform e.V.». Sören stellte den Wagen am Waldrand ab, schloss sicherheitshalber das Verdeck und zog die Startkurbel aus ihrer Halterung, wie er es Martin versprochen hatte. Zwei Weidenkörbe mit Proviant, Handtüchern und Decken waren alles an Gepäck, was sie dabeihatten. Mehr benötige man nicht, hatte Liane gemeint. Die Weinflaschen ließ Sören im Wagen zurück. Alkohol war auf dem gesamten Areal verpönt, wie er erfuhr.
    Der Waldweg endete nach gut hundert Metern an einer Lichtung. Hier begann das eigentliche Gelände des Vereins, das von einem Weidenzaun umschlossen war. Den Eingang bildete ein kunstvolles Arrangement gekreuzter Birkenstämme in Form einer Parabel, die jeder zu durchschreiten hatte. Dahinter führte der Weg hinab zu einer Senke,

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