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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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zuging. Hier wurden die Pferde taxiert und die Jockeys gemustert, hier glaubten fachmännische Blicke zu erkennen, was anderen verborgen blieb. Doch hier waren es nicht die großen Namen der Züchter und ihrer Pferde, welche die Quoten bestimmten, hier war es die Suche nach dem nervösen Zucken eines bestimmten Pferdes, aus dem man dessen Bereitschaft ablesen konnte, im Finish womöglich einen Konkurrenten vorbeiziehen zu lassen – oder auch nicht.
    Sören verstand nicht viel von Pferden. Er hatte den Tieren noch nie viel abgewinnen können, daher wusste er auch nicht, woran man erkennen konnte, ob ein Pferd schnell war. Die wenigen Male, die er auf einem Gaul gesessen hatte, war er damit beschäftigt gewesen, nicht herunterzufallen. Und das waren gutmütige Reitpferde gewesen. Hier handelte es sich um hochsensible und reinrassige Rennmaschinen. Die kleinwüchsigen Jockeys wirkten in ihrer geduckten Haltung auf ihnen, als seien sie mit dem Rücken der Pferde verschmolzen und als könne sie keine noch so heftige Bewegung aus dem Sattel schleudern. Ein Trugschluss, wie man von manch einem Rennen wusste. Im letzten Jahr hatte es sogar einen tödlichen Unfall beim Derby gegeben.
    Die Pferde trugen fast ausnahmslos Namen, die ihre Eleganz, Kraft oder Geschwindigkeit in phantasievollen Wortschöpfungen beschrieben. Wenige Namen ließen Rückschlüsse auf das Gestüt zu, die Champions unter ihnen waren jedem, der sich auskannte, ein fester Begriff. Sören kannte sich nicht aus. Er beobachtete die Tiere aus der Distanz und merkte nur, wie nervös sie waren. Die Männer an der Absperrung neben ihm fachsimpelten dagegen und schienen jedes noch so kleine Detail zu beobachten. Jedes Blinzeln, jede Schweißperle wurde registriert und besprochen. Beeindruckend war die Farbenpracht der Schärpen und Jacken, mit denen sich die Jockeys schmückten. Die Farbkleckse waren für jeden Zuschauer der einzige Anhaltspunkt, um die Pferde auf der Rennstrecke auseinanderhalten zu können, wenn der Pulk der Reiter, eine Staubwolke hinter sich herziehend, um die Bahn galoppierte.
    Andresen interessierte sich nicht für die Pferde. Er beobachtete die Männer, die hinter einem Erdwall auf und ab gingen, tief gebeugt über Zettel, die sie in der Hand hielten und auf denen sie mit einem Stift Markierungen setzten oder die sie mit Notizen bekritzelten. Nach kurzer Zeit hatte er gefunden, wonach er Ausschau gehalten hatte. Er hatte gesehen, wie ein paar Scheine den Besitzer gewechselt hatten – ganz schnell, ohne viel Aufhebens.
    Es war ein Geschäft im Verborgenen, ein Geschäft voller Risiken, aber auch eines des Vertrauens. Wer nicht auszahlen konnte, war verbrannt. Für immer. Wie hoch der Verdienst war, blieb unbekannt. Eine Strafverfolgung bei Vergehen war praktisch ausgeschlossen, weil eine Anzeige gleichzeitig eine Selbstanzeige wegen unerlaubten Glücksspiels bedeutet hätte. Dieses Risiko ging niemand ein. Der Markt hatte seine eigenen Spielregeln, und die Einsätze waren hoch. Höher als an den Wettcassen der offiziellen Buchmacher. Andresen wusste das alles – nur es interessierte ihn nicht. Er wollte keinen illegalen Buchmacher, er wollte einen Mörder fassen. Auch wenn er sich schwer damit tat, sie durften um keinen Preis auffallen.
    Andresen umrundete den Mann, dann ging er zu ihm und fragte nach Kurs und Quote. Er erhielt einen Zettel. Wie die anderen Männer studierte er den Zettel, ging erneut zu dem Mann, der aussah wie jeder andere, tat, als überlege er kurz, schüttelte schließlich den Kopf und gab den Zettel zurück.
    Inzwischen hatte das erste Rennen begonnen. Die Zuschauer grölten, je näher das Feld dem Ziel kam. Andresen blieb unbeeindruckt von alledem. Er hatte schon den nächsten Kandidaten ausgemacht. Das Spiel wiederholte sich. Vorsichtiges Annähern, ein unscheinbares Nicken, ein kurzer Wortwechsel und ein Zettel. Sonst nichts. Nach dem dritten Buchmacher, den Andresen ausfindig gemacht hatte, glaubte Sören zu wissen, woran man sie erkennen konnte. Sie hielten sich stets im Hintergrund, waren nie zu dicht an den Absperrungen und wirkten unbeteiligt, völlig emotionslos.
    «Kleine Fische», sagte der Polizist und lehnte sich an das hölzerne Geländer, das den Sattelplatz von der Bahn trennte. «Sie wollen nur Wetten auf Sieg oder Platz annehmen.»
    «Sie kennen sich anscheinend aus in der Materie», sagte Sören.
    Andresen verwies auf das nächste Rennen. «Die heißen Wetten kommen noch. Ich habe mich nach

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