Totenwall
Markise gleich die Sitzreihen beschatteten. Auch wenn es heute keine Aufführung gab, waren die Bänke bis auf den letzten Platz gefüllt. Theodorus Offenbach, der Besitzer des Varieté-Lokals, hatte Liane zuletzt am Samstag gesehen. Ihr nächster Aufstieg sei in zwei Tagen, meinte er, und bislang wäre sie immer pünktlich gewesen.
Sören fuhr zwar noch nicht auf Reserve, aber das Schwappen im Tank signalisierte ihm, dass es an der Zeit war, der Gray-Fellow ein wenig Benzin zu spendieren. Hier in Barmbeck kam ihm die Gelegenheit gerade recht. Bei der Drogerie Mittelbach gab es in der Stadt den günstigsten Sprit, und der Weg zur Humboldtstraße war nur ein unbedeutender Schlenker. Wie immer standen die Automobile Schlange, aber das Warten lohnte sich durchaus. Die Drogerie Mittelbach hatte sich seit einiger Zeit auf den Verkauf von Benzin spezialisiert, und unter den Automobilisten der Stadt hatte sich das recht schnell herumgesprochen. Inzwischen konnte man dort direkt aus einer Fasspumpe tanken, was die Angelegenheit deutlich erleichterte. Das umständliche Abfüllen mittels Kannen nahm in etwa die gleiche Zeit in Anspruch, wie man hier Schlange stand. Entscheidend aber war der Preisvorteil. Zahlte Sören an der Rothenbaumchaussee für den Liter 60 Pfennig, so kostete er hier nur 45 Pfennig. Auf den fehlenden Einfüllservice konnte er da gut und gerne verzichten. Vollgetankt ging es in Richtung Schanze.
Die große Ausstellung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft auf dem Heiligengeistfeld musste gerade ihre Pforten geschlossen haben. Auf der Karolinenstraße strömten Sören große Mengen von Besuchern entgegen, wahrscheinlich Tagesbesucher, die auf dem Weg zum Dammtorbahnhof waren. Er bog in die Grabenstraße ein, dann in die Glashüttenstraße.
Schon von weitem konnte Sören erkennen, dass David zu Hause war. Am eisernen Zaun vor dem Haus lehnte sein altes Fahrrad, das er David nach dem Kauf der Harley-Davidson geschenkt hatte. Vielleicht war Liane sogar bei ihm. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
«Nein, ich weiß auch nicht, wo sie steckt», sagte David, der über den erneuten Besuch von Sören erstaunt war. «Wir haben uns vor drei Tagen das letzte Mal gesehen. Und am Sonntag wollte sie wieder zu ihren Nackten nach Duvenstedt.»
«Weißt du, wo sie stecken könnte?»
«Vielleicht bei einer Freundin.» David zuckte mit den Schultern. «Sie scheint es dir ja angetan zu haben.» Er grinste. «Normalerweise lässt du dich hier nur zwei-, dreimal im Jahr blicken. Und nun … Muss ich mir Gedanken machen?»
«Ich dachte nur, sie sei möglicherweise hier. Ich brauche von ihr eine Information, den Namen von jemand, den sie kennt.» Er wollte David nicht beunruhigen und behielt den wahren Grund für sich. Wahrscheinlich waren seine Ängste nur ein Hirngespinst.
David machte eine sorglose Geste, dann bat er Sören herein. «Wenn du schon einmal hier bist …» Er holte aus dem Nachbarzimmer eine Zeichnung und breitete das Blatt auf dem Tisch aus. «Was hältst du davon?»
Sören beugte sich über das Papier und studierte die Zeichnung. In der Mitte des Blattes, das auf den ersten Blick nur aus Bäumen zu bestehen schien, hatte David ein Haus skizziert. Ein Haus aus Backstein mit einem riesigen Walmdach, zwei Reihen von etagenhohen Sprossenfenstern, die in die Dachzone hineinragten, merkwürdig verzerrt, was ein Blick auf den Grundriss, den er daneben auf dem Blatt skizziert hatte, erklärte. Das Haus war rund. Nicht kreisrund, aber die Fassade bog sich zu einem Drittelkreis um einen imaginären Mittelpunkt.
«Das ist die Südseite, die Terrasse», erklärte David. «Du wolltest es hell.»
Auf Höhe der Dachtraufe lief das Geländer eines schmalen Balkons vor den Fenstern und Türen der ersten Etage entlang. Darüber neigte sich das Dach wie ein riesiger Pilzhut, gegliedert nur durch drei winzige Fledermausgauben.
«Ich sehe schon, du verstehst dein Handwerk. Wieso ist es gebogen?»
«Das habe ich nur als Idee skizziert. Es kommt natürlich auf das Grundstück an. Aber das Landhaus kann auch am Rand eines kleineren Geländes liegen, relativ nah an der Grundstücksgrenze. Durch die konkave Form behält der zum Garten ausgerichtete Teil seine Intimität. Vielleicht war es mir nach den schienengeraden Überlegungen der Bahnhöfe auch ein Bedürfnis, etwas Organisches zu konstruieren. Auf Sandstein habe ich wunschgemäß verzichtet, denke aber, dass er im Eingangsbereich durchaus seinen Reiz
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