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Totenwall

Titel: Totenwall
Autoren: Boris Meyn
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fehlerfrei spielen konnte, obwohl sie kaum übte und die ausgesuchten Stücke alles andere als einfach klangen. Von der Veranda aus hörte er ihrem Spiel zu und fand es schade, dass Tilda nicht da war und sie auf der Violine begleitete. Ihr gemeinsames Spiel war in den letzten Jahren immer seltener geworden, die Hausmusikabende, so wie früher, gab es schon lange nicht mehr. Sören schenkte sich einen Weißwein ein und betrachtete seine Tochter, die engelsgleich ihren Kopf im Takt der Musik hin und her warf, dass ihre langen Locken zu tanzen schienen. Ilka spielte ohne Noten. Schließlich beendete sie die Sonate mit einem anmutigen Lächeln, erhob sich und kam mit einer spielerischen Pirouette auf die Veranda geschwebt.
    «Ich könnte immer nur tanzen», sagte sie und setzte sich zu Sören. «Am liebsten wäre es mir, das zu meinem Beruf zu machen.»
    «Du solltest froh sein, dass es Frauen inzwischen gestattet ist, überhaupt richtige Berufe auszuüben.» Sören erschrak über seine Worte. Er kam sich vor wie Tilda, als Sprachrohr der Frieda Radel, mit der seine Frau sicher auch heute wieder unterwegs war.
    Ilka schien es ähnlich zu sehen. «Du klingst wie Mutter», sagte sie mit einem Seufzen.
    «Vielleicht hat sie ja recht?»
    «Ach … Warum kann ich nicht das machen, was mir Spaß macht?» Ilkas Hand fuhr durch ihre Locken. «Ich habe neulich ein langes Gespräch mit Mutter geführt. Was heißt neulich. Eigentlich spricht sie über nichts anderes mit mir. Als wenn meine ganze Zukunft davon abhängt, wofür ich mich jetzt entscheide.»
    «So ganz falsch wird sie damit nicht liegen», entgegnete Sören behutsam. Er blickte seine Tochter an und stellte abermals fest, was für eine Schönheit sie war. Natürlich sollte sie nichts machen, wozu sie keine Lust hatte. Sie vor der großen Leere zu bewahren, die sich schnell auftat, nachdem sie einen Prinzen gefunden hatte, dem man sich an den Hals werfen konnte, ohne ein weiteres Ziel zu haben, darum ging es doch. Und dass sich die Männer um sie reißen würden, das stand für Sören außer Frage.
    «Hast du wegen deines Interesses am Tanz schon mal mit Liane Kronau gesprochen? Du kennst doch die Verlobte von David? Sie ist Tänzerin.»
    «David hat sich verlobt?»
    «Na ja … nicht so richtig. Aber ein Paar sind die beiden schon.»
    Ilka schüttelte den Kopf. «Er ist ja nicht mehr so oft hier. Ich kenne sie nicht.»
    «Ein Treffen lässt sich sicher arrangieren. Vielleicht plauderst du einmal mit ihr über die Tanzausbildung und darüber, was man später für Chancen damit hat, auch wirklich als Tänzerin arbeiten zu können. Du hast ja nie Ballettunterricht gehabt. Gibt es denn eine andere Möglichkeit, sich zum Tanz ausbilden zu lassen? Dir schwebt doch sicher keine Zukunft als Revuetänzerin vor, oder?»
    «Das weiß ich noch nicht. Das heißt …» Ilka stockte. Dann schaute sie Sören an, als wenn sie ihm ein Geheimnis anvertrauen würde. «Hast du schon einmal von Isadora Duncan gehört?»
    Sören schüttelte den Kopf. Der Name war ihm unbekannt.
    Ein Leuchten durchströmte Ilkas Gesicht. «Sie ist eine amerikanische Tänzerin, die zusammen mit ihrer Schwester Elizabeth eine Tanzschule in Berlin gegründet hat. Die machen da aber kein Ballett, sondern Ausdruckstanz.»
    «Ausdruckstanz», murmelte Sören. Ihm schossen die nackten Tänzer und Tänzerinnen aus Duvenstedt durch den Kopf, die mit ihren rhythmischen Gymnastikübungen über den Rasen gehopst waren. Er versuchte, den Gedanken an das Schicksal von Heidi Sello zu verdrängen.
    «Ja, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen … sie zu tanzen. Du weißt doch, dass ich Gedichte schreibe. Wie schön wäre es, wenn mein Körper den Versen folgen könnte.»
    «Vielleicht trägst du mir ja mal das eine oder andere Gedicht vor, die Verse, die du geschrieben hast?»
    Ilka strahlte ihn an. «Ich bereite das mal vor.»
    Sören nickte. Tilda hatte zwar davon erzählt, aber soweit er wusste, hatte auch sie noch keinen Vers ihrer Tochter zu Gesicht bekommen.
    «Sei mir nicht böse, aber die Dinge, mit denen du dich beschäftigst, interessieren mich einfach nicht. Und die Naturwissenschaften liegen mir auch nicht so. Sicher ist Ärztin ein interessanter Beruf, aber ich kann doch nicht mal Blut sehen, ohne dass mir flau wird. Und meine Zensuren spiegeln das auch wider … Das sind alles die Vorschläge, die mir Mutter immer wieder macht, aber ich kann mich einfach nicht dafür begeistern.»
    Im Hintergrund war zu hören,
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