Totenzimmer: Thriller (German Edition)
ist
. Um sechs Uhr holte er altbackenes Brot, Aufschnitt und ein Glas Curry-Hering aus dem Schrank und warf mir einen fragenden Blick zu: Ich lehnte erst dankend ab, aß dann aber doch zwei Brotscheiben mit Wurst. Er hätte sich bestimmt auch gefreut, wenn ich mich anschließend zu ihm aufs Sofa gesetzt und mit ihm deutsches Fernsehen geschaut hätte, aber die Ameisen unter meiner Haut und die in Rødekro so langsam vergehende Zeit ließen mich unruhig werden. Um 19.30 Uhr küsste ich ihm auf die Stirn und fuhr weiter. Zehn Stunden Fahrt hatte ich veranschlagt, plus Pausen: Essen, Toilettenbesuche,die Beine vertreten, Rauchen, Schlafen. Im Laufe der Nacht hielt ich zweimal an einer Raststätte an und schlief eine Weile, bis die Kälte mich wieder weckte. Dann fuhr ich weiter, bis meine Augen erneut unsicher wurden. Ich war keine gute Nachtfahrerin, die Straße verschwand, und der entgegenkommende Verkehr blendete mich, so dass meine Augen schmerzten.
Die Müdigkeit veränderte mich. Sie reduzierte mich auf meine ganz basalen Bedürfnisse. Auch meine Gedanken wurden dann müde und flüchtig, als blätterte man abwesend in einem wohlbekannten Familienalbum. Außerdem war ich all die Grübelei leid und stattdessen bereit zu handeln, mit Tunnelblick darauf eingestellt, das Leben zu verlassen, wenn es denn so sein sollte; mir war alles egal, alles, was ich wollte, war, dass Larry Tang Mortensen den gleichen Schmerz erlebte, den er diesen Mädchen zugefügt hatte. Mal drei. Und dann sollte er sterben. Das erschien mir leichter und wesentlich machbarer als das Auspacken von Möbelkartons.
Das Autoradio war ausgeschaltet, denn ich wollte die Stille in meinem Kopf nicht stören. Das Rauschen der anderen Autos und das leise Summen der Räder reichte mir, und besonders auf den betonierten Straßenabschnitten, die ganz andere Töne von sich gaben und den Eindruck einer besseren Straßenhaftung erweckten, genoss ich die gleichförmigen Geräusche.
Die Sonne schien bereits wieder vom Himmel, als ich über die Hügel bei Kassel fuhr. Der Oktober hatte das Laub rot gefärbt, aber das ständige Auf und Ab der Straße machte sich in meinem Fuß bemerkbar, so dass ich irgendwann anhalten und mir eine kräftige Bandage anlegen musste, woraufhin mein Fuß nicht mehr in den Schuh passte. Zum Glück hatte ich mit dieser Möglichkeit gerechnet und nicht nur Bandagen, sondern auch weite Strümpfe und Überschuhe eingepackt.
Erst als ich Maximilian Schöning gegenüberstand, ärgerte ich mich über meinen dicken Fuß. Er war ein dunkler Mann mit einer dunklen Ausstrahlung, und ich hatte wirklich keine Lust, ihm gegenüber schwach oder minderwertig zu wirken.
Obwohl dies unsere erste Begegnung war, hatte ich das Gefühl, ihn bereits zu kennen – ich hatte all seine Publikationen gelesen und ihn schon mehrfach telefonisch um Rat gefragt, wobei er immer freundlich und zuvorkommend gewirkt hatte. Doch leibhaftig getroffen hatte ich ihn noch nie. Schockiert musste ich nun feststellen, dass er ganz und gar nicht der freundliche, rundliche Mann war, den ich mir am Telefon vorgestellt hatte. Maximilian Schöning war klein, kleiner als ich. Ein drahtiger Mann um die vierzig, mit rabenschwarzen, schulterlangen Haaren und einem stechenden Blick, bei dem mir schlagartig unwohl wurde, ohne dass ich erklären konnte, warum. Manche Menschen machten einen auf unerklärliche Weise verlegen und nervös, so dass man alles Mögliche umwarf oder über die eigenen Füße stolperte. Maximilian Schöning machte mich nicht nur unruhig, er jagte mir Angst ein. Er war kein Mann, dem ich freiwillig den Rücken zudrehte. Ich versuchte seinem forschenden Blick zu entgehen, indem ich seine heftig pulsierende Halsschlagader fixierte. Am Telefon war er immer Maximilian gewesen, jetzt war er Dr. Maximilian Schöning.
»Danke, dass Sie kommen konnten«, sagte Dr. Schöning langsam auf Hochdeutsch, als wir uns über seinen Schreibtisch hinweg die Hände geschüttelt hatten. Eine ältere Sekretärin hatte mich schweigend zu Dr. Schönings Büro eskortiert, nachdem sie ihn zuvor telefonisch über meine Ankunft unterrichtet hatte. Sie war bereits auf dem Weg nach Hause, als ich an der Tür des Neuen Instituts für Rechtsmedizin geklingelt hatte. Durch unzählige Glastüren hindurch hatte ich beobachtet, wie sie gerade damit beschäftigt war, sich ein Kopftuch anzulegen. Es war bereits nach fünf Uhr nachmittags, und der Himmel wurde zusehends dunkler.
Maximilian
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