Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Pillen wirkten, indem sie einen Zustand erzeugten, der dem normalen Schlaf glich, aber künstlich und traumlos war. Wenn man eine Zeitlang Schlaftabletten genommen hat, schaffte man es nicht mehr, sich munter und ausgeruht zu fühlen. Trotzdem hörte ich nicht auf. Seit jener Nacht an der Kiesgrube hatte ich jeden Abend Schlaftabletten genommen. Um eine Abhängigkeit zu vermeiden, aber auch, weil Imovane schnell an Wirkkraft verlor, stieg ich auf andere Präparate um, die nach einer gewissen Zeit dann aber auch keine Wirkung mehr zeigten. Irgendwann stand ich in einer Apotheke und schriebmir selbst ein Rezept für Rohypnol. Ich fühlte mich wie eine Drogenabhängige. Es musste dringend etwas passieren, damit es gar nicht erst so weit kam.
Beim letzten Mädchen war alles viel schneller gegangen; die Stiche waren tiefer, so dass sie heftige innere Blutungen gehabt hatte. Ich hatte an der Obduktion teilgenommen, jedenfalls teilweise; ich erinnerte mich daran, wie betroffen mich ihr Bauchnabelpiercing gemacht hatte. Sie hatte auf ihre ganz spezielle Weise doch nur versucht, ein bisschen schön zu sein. Wie Emilies Versuch mit dem roten Nagellack auf den Zehennägeln. Das waren Lebenszeichen, Zeichen all der überschüssigen Energie, und die Bilder dieser Lebenszeichen hallten in meinem Kopf nach. Wie ein Autoradio, das noch weiterspielte, obwohl das Auto mit voller Wucht gegen einen Baum gerast und der Fahrer längst tot war. Lauter kleine Rädchen, die sich sinnlos weiterdrehten und über unsere menschliche Begrenztheit triumphierten.
Carsten Bjerre, dessen Hirn in einer Kiesgrube bei Davinde zerschmettert worden war, hatte als Krankenträger im Universitätsklinikum von Odense gearbeitet. Zuvor hatte er Medizin studiert, das Studium aber kurz vor Ende seines praktischen Jahres in der Rechtsmedizin abgebrochen, was alle überrascht hatte, da er zu den Besten seines Jahrgangs gehört hatte. Angeblich war er ein netter Mensch gewesen, einer, über den man sagte, er habe flinke Finger. Man fand keinerlei Spuren von kristallisiertem Clofazimin in Milz, Leber oder Lymphknoten, und auf seiner perfekten Haut waren keine Verfärbungen zu erkennen gewesen. Auch in seinem Haus gab es keine Spuren von Clofazimin, dafür aber »ganze Paletten« von Rohypnol, wie Tommy Karoly sich ausgedrückt hatte. Es gab längst keinen Zweifel mehr, dass Bjerres Komplize – und mit größter Wahrscheinlichkeit auch sein Mörder – der sechsundzwanzigjährige Krankenträger Larry Tang Mortensen war, der sich seit dem Freitag vor dem Mord an Jeanette Lisa Jensen, deren Blut meine Wand geschmückthatte, nicht mehr im Klinikum hatte blicken lassen. Ein DNA-Ab gleich des Täterprofils mit einem Haar, das auf Tang Mortensens Waschbecken lag, und einer weiteren DNA-Probe aus seiner Zahnbürste zeigte volle Übereinstimmung. Er war der Täter, oder wenigstens einer von ihnen.
Larry war es gewesen, der Spuren hinterlassen hatte, während es von Carsten nicht eine Spur gab. Ob das Zufall war, ein Hinweis darauf, dass er der friedlichere gewesen war, oder der ganz konkrete und perfekt gelungene Versuch, keine biologischen Spuren zu hinterlassen, konnten wir nicht sagen. Ein Hinweis aber war, dass Carsten Bjerre kahl geschoren war. Sein Schädel war rasiert, die Augenbrauen entfernt und durch braune Striche ersetzt, genau wie Anne es erzählt hatte; auch die Schamhaare waren komplett abrasiert, und als man ihn fand, trug er Mundbinde und Latexhandschuhe.
Auch bei der Untersuchung von Larry Tang Mortensens Apartment fand man kein Clofazimin, dafür aber Unmengen von Medikamenten gegen Schuppenflechte, von Methotrexat bis zu diversen Salzen. Die meisten Schachteln aber waren leer, das Haltbarkeitsdatum vieler Medikamente war bereits abgelaufen. Was diese Sammlung jedoch deutlich zeigte, war, dass man es hier mit einem Mann zu tun hatte, der voller Verzweiflung jedes erdenkliche Mittel ausprobiert hatte, um seine Krankheit zu lindern. Fyn Nielsen hatte bekannt gegeben, dass Carsten Bjerre im November letzten Jahres über das Internet genug Clofazimin für eine sechs Monate dauernde Therapie bestellt hatte. Tang Mortensen konnte mit der Therapie also frühestens im Dezember begonnen haben.
In Larry Tang Mortensens Wohnung fand die Polizei außerdem eine große Anzahl illegal gebrannter CDs. Es handelte sich um Death-Metal-Songs, in die Sequenzen der Schreie der Mädchen hineinkopiert worden waren, um dem Ganzen den letzten Schliff zu geben. Wie groß war
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