Totenzimmer: Thriller (German Edition)
hervorholte; einen Regenmantel, den ich erst noch aus der Plastikhülle befreien musste; ein paar schwarze, dünne Lederhandschuhe, umwickelt mit feinem Seidenpapier, und einen Baumwollschal. Im Tatortkoffer hatte ich zwar Haube, Mundbinde, Schutzkleider und Latexhandschuhe, aber damit wollte ich in der Stadt nicht gesehen werden. Das Paracetamol hatte das Pochen in meinem Knöchel zum Schweigen gebracht, und obwohl ich Angst hatte, wagte ich es, Mortensen zu Fuß zu verfolgen. Ich griff nach meiner Tasche, stieg aus dem Auto und hastete hinter ihm her. In der Einfahrt der Ambulanz stand ein großer Mülleimer, in den ich das leere Verpackungsmaterial stopfte.
Schon nach wenigen hundert Metern gesellte sich Mortensen zu drei anderen Menschen an eine Bushaltestelle. Ich schlüpfte in eine Einfahrt und versuchte klar zu denken, gab den Versuch aber gleich wieder auf; ich musste mich einfach von meinen Beinen tragen lassen und ihm folgen, so gut ich konnte. Und so stand ich mit steifen Gliedern da und wartete, bis schließlich ein bereits ziemlich voller Bus mit pfeifenden Bremsen an der Haltestelle vorfuhr. Larry Tang Mortensen stieg als Zweiter ein. Ich folgte ihm, schlug den Kragen meines Mantels hoch und setzte meine Lesebrille auf. Dem Fahrer reichte ich einen Fünf-Euro-Schein und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er das Wechselgeld behalten könne. Dann setzte ich mich neben eine ältere Frau direkt hinter den Fahrer. Als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt, drehte ich mich kurz um, aber Mortensen wollte dort nicht aussteigen.
Du kannst nicht hier sitzen und dich ständig umdrehen
, dachte ich und holte einen kleinen Schminkspiegel aus meiner Tasche. Beim nächsten Halt wollte meine Nebensitzerin aussteigen. Ich stand auf, ohne mich umzudrehen, fühlte mich aber steif und unbeholfen. Als ich wieder saß, versuchte ich den Spiegel mit der rechten Hand so auszurichten, dass ich sehen konnte, wer ausstieg. Er war nicht dabei. Ein junger Mann kam atemlos in letzter Sekunde angerannt und machte Anstalten, sichneben mich zu setzen. Ich zog die Beine an, damit er vorbeikam, aber er sagte, er müsse an der nächsten Haltestelle gleich wieder aussteigen und würde deshalb lieber außen sitzen. Etwas ärgerlich schob ich mich auf den Fensterplatz. Irgendwie musste ich das alles hinter mich bringen. Ich wollte nicht in einem Bus sitzen und beobachten, wie Leute aus- und einstiegen. Ich wollte überhaupt nicht hier sein, das Ganze überstieg meine Kraft und meine Fähigkeiten, ich wollte einfach nur weg.
In diesem Moment sah ich ihn in meinem kleinen Spiegel: ein hässlicher, fetter Mann. Mit der Hand an der Stange stand er seitlich zu mir gedreht, offensichtlich in seinen Gedanken versunken. Der Bus hielt an, er stieg aus, ich erhob mich und sah ihn nach rechts gehen. Menschen stiegen ein. Ich schlüpfte durch die vordere Tür nach draußen und folgte ihm. Ungefähr hundert Meter vor mir verschwand er in einem Hauseingang. Er schien nicht aufschließen zu müssen, sondern ging einfach so ins Haus. Ich blieb neben einer Bank unter einem dicken Baum stehen und sah das Licht im Treppenhaus angehen. Nur in wenigen Wohnungen brannte Licht, doch nach einer Weile wurde auch in der Wohnung ganz rechts oben das Licht eingeschaltet. Die benachbarten Fenster waren alle dunkel. Jetzt also sollte sich zeigen, ob ich auch dazu fähig war, meine Fantasien in die Tat umzusetzen. In diesem Moment fühlte ich mich, als gäbe es von nun an kein Zurück mehr. Als ich im Schutz des Baumes, weitab der nächsten Straßenlaterne, eines der Obduktionsmesser aus der Gesäßtasche zog, den Lederriemen abwickelte, das Messer in den Jackenärmel schob und zur Haustür ging, floss meine Angst langsam durch das Messer nach unten und verschwand.
Ich trat in den dunklen Hausflur und schaltete das Licht ein. Unter der Treppe im Erdgeschoss lag eine fleckige Decke neben ein paar Zeitungsfetzen und einigen leeren Flaschen. Die Treppe war verdreckt, und von der Haustür blätterte die grüne Farbe ab. Der Dunst fremder Gewürze hing in der Luft.
Im dritten Stockwerk begann mein Fuß wieder zu schmerzen, aber ich dachte nur an das Auge. Sein Auge. Mein Entschluss stand längst fest.
Ich band mir den Schal so um den Kopf, dass er Nase und Mund bedeckte, und klingelte. Er öffnete, und ich stürzte direkt auf ihn zu und bohrte das Obduktionsmesser tief in sein rechtes Auge. Genau so hatte ich das geplant, und so musste es klappen. Wie
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