Totenzimmer: Thriller (German Edition)
unterschiedlichen Alters; die ältesten – an ihnen war das Granulationsgewebe deutlich ausgeprägt – lagen im Bereich der Brüste, wo besonders die teils abgeschnittenen, teils abgerissenen Brustwarzen auffielen.
Während John und John fotografierten, tastete ich Emilies Kopfhaut ab, um auch unter den Haaren eventuelle Läsionen ausfindig machen zu können, fand jedoch keine. Ich suchte noch einmal nach punktförmigen Einblutungen, wieder ohne Erfolg. Dann bewegte ich vorsichtig ihre Nase und hörte das Kratzen zweier unregelmäßiger Knochenflächen, die aneinanderrieben. Der Nasenrücken war bläulich verfärbt, und in beiden Nasenlöchern war angetrocknetes Blut.
Er hatte ihr die Nase gebrochen. Dann zog ich die Lippen mit zwei Pinzetten auseinander. Der Mund war leicht geöffnet, die Zunge war intakt und die Zähne sahen aus wie bei den meisten Teenagern ihrer Altersgruppe: nicht eine Plombe. All diese Ergebnisse sprach ich ins Diktiergerät.
»Sind Sie vollkommen sicher, was ihre Identität angeht, oder brauchen wir den Zahnarzt?«, fragte ich.
»Wir gehen davon aus, dass die Identität geklärt ist«, sagte Karolyknapp. Es war das Erste, was er sagte, seit er den Raum betreten hatte. »Die Eltern kommen nach der Obduktion.«
»Anstelle der Eltern«, sagte Henriette plötzlich, »wäre es mir lieber, sie vor der Obduktion zu sehen. Sie müssen sie doch nicht berühren, sondern einfach nur ansehen.« Der Blick, mit dem sie mich ansah, war beinahe vorwurfsvoll.
Ich ließ das Diktiergerät sinken und sah sie an. Was wusste dieses Mädchen schon davon, wie es war, ein Kind zu verlieren?
»Henriette«, begann ich. »Die meisten Leichen sind nach der Obduktion schöner, aber wahrscheinlich meinen Sie das gar nicht.« Ich richtete mich ganz auf. »Wir können die Eltern auf keinen Fall zu ihr lassen, bevor wir mit der Obduktion fertig sind. Wir haben ja noch keine Ahnung, wer ihr das angetan hat, und sehr häufig stammen die Täter ja aus dem Kreis der Familie – wobei auch ich nicht glaube, dass das hier von einem Familienmitglied angerichtet worden ist. Aber … trotzdem, wir dürfen auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass es zu einer Verunreinigung kommt, sei sie auch noch so klein.« Henriette verschränkte die Arme vor ihrer Brust und starrte erneut auf einen Punkt hinter mir.
Ich fuhr mit der Untersuchung der äußeren Geschlechtsorgane fort und fand eine Blutung an der Innenseite der rechten inneren Schamlippe.
»Diese Läsion hier«, erklärte ich den anderen im Raum, »deutet auf einen sexuellen Übergriff hin.« Ich ließ meinen Blick über die vermummten Gesichter um mich herum schweifen und sagte, an Poul gewandt: »Wir müssen besonderes Gewicht auf die Untersuchung der Geschlechtsorgane und des Enddarms legen.« Er nickte. Im Saal breitete sich bedrückende Stille aus, einzig unterbrochen von dem Rascheln der Schuhüberzüge und dem Klicken und leisen Summen der Kamera des großen John.
Eigentlich entnahmen wir bei einer Obduktion die äußeren und inneren Geschlechtsorgane nur selten
en bloc
, aber in diesem Fall wardas relevant, um aufklären zu können, was geschehen war – keine Untersuchung konnte sicher dokumentieren oder nachweisen, dass eine Frau vergewaltigt worden war, aber auf diese Weise konnten wir überprüfen, ob die Scheide so auffällig verletzt war, dass man nicht mehr von freiwilligem Sex ausgehen konnte.
Vom Kopf ausgehend machte ich mich daran, die nummerierten Läsionen zu beschreiben. Auch im Gesicht registrierte ich mehrere kreuz und quer geführte Schnitte und Stiche. Einer dieser Schnitte war in der Wange, so dass es aussah, als würde Emilie grinsen. Insgesamt fanden sich sieben scharfe Läsionen im Gesicht, besonders im Bereich des Mundes, was mich an etwas denken ließ, das Bonde Madsen einmal gesagt hatte: Männer, die Frauen misshandelten, konzentrierten sich häufig auf den Mund, da dies die Quelle all der bösen Worte und unbequemen Wahrheiten war, gegen die Männer sich häufig nur mit physischer Gewalt zur Wehr setzen konnten. »Aber Männer können doch auch reden«, hatte ich zu bedenken gegeben und dafür einen Blick geerntet, der mir deutlich zu verstehen gab, dass ich keine Ahnung von Männern hatte. Ich hatte im Laufe der Zeit die Erfahrung gemacht, dass Kinder am häufigsten im Bereich des Mundes misshandelt wurden.
Die Läsionen im Gesicht waren frisch, einige davon schienen Emilie erst ganz zum Schluss zugefügt worden zu sein. Ich vermaß
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