Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Fürsorge.
»Dr. Krause, was ist los?« Die Stimme des großen John.
»Magenkrämpfe«, flüsterte ich und blinzelte ein paar Mal mit den Augen. Als ich mich langsam wieder aufrichtete, sah ich, dass es der kleine John war, der meine Schultern festhielt. Ich atmete tief durch die Nase ein und aus, entschuldigte mich und begann sofort dieRippen zu entfernen. Mit ein paar einfachen Handgriffen entnahm ich die Organe an einem Stück und legte sie auf den Sektionstisch. Dann stand ich einen Moment lang da und starrte leer vor mich hin. Karoly beobachtete mich mit einer Miene, die ich nicht zu deuten vermochte. Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt war sie tot. Ohne jeden Zweifel. Tot. Es war überstanden.
Poul begann an ihren Beinen Blutproben zu pressen, die er in einen stählernen Messbecher laufen ließ. »Das Blut wird immer aus den Extremitäten genommen«, erklärte ich dem kleinen John mechanisch und heftete meinen Blick auf seinen Brustkorb, »weil die Verwesung in den zentralen Teilen des Körpers beginnt.« Ich musste reden, irgendetwas herunterleiern, wie ein Lehrbuch klingen und mich an meinem Wissen festhalten; an all dem Sicheren, das ich auswendig wusste, im Schlaf kannte. Und ich musste mit ihm reden, denn die Verbindung zwischen uns war rein und klar. Er wollte mir nichts Böses, das konnte ich spüren. »Früher hat man die Blutproben im Herz genommen, aber sollte ein Opfer wirklich vergiftet worden sein, misst man dort immer eine höhere Konzentration der entsprechenden Gifte, wohingegen das Blut der Extremitäten die tatsächliche Menge aufweist, die sich zum Zeitpunkt des Todes im Körper befunden hat.«
Ich untersuchte routiniert die Organe und versuchte, meine Gedanken auszusperren. Alles war jung und gesund. Hinter mir spürte ich Karoly, ich hörte seinen Atem, er sagte aber nichts. Trotzdem reichte schon der Gedanke an seine Stimme aus, um mich aggressiv zu machen. Pouls Füße raschelten über den Boden, und Henriette seufzte. In einem Nebel aus Erschöpfung begann ich, die Geschlechtsorgane
en bloc
freizuschneiden. Ich schnitt mit ein paar Zentimetern Abstand um die äußeren Geschlechtsorgane und die Afteröffnung herum, löste alles mit einem tiefen Schnitt über dem Becken, hob das Ganze an einem Stück heraus und legte es neben die anderen Organe auf den Sektionstisch. In der Scheidenwandfand ich mehrere Einblutungen und tiefe Läsionen in den Schleimhäuten, überdies war der Schließmuskel im Darm gerissen. Das alles waren aber – wie gesagt – keine definitiven Nachweise einer Vergewaltigung, weil es immer Leute gab, die sich freiwillig so behandeln ließen.
Die Sektion des Halses ergab mehrere Brüche des Zungenbeins sowie des Schildknorpels, die aber keine Blutungen hervorgerufen hatten. Auch dies zeigte deutlich, dass sie nicht mehr gelebt hatte, als der Täter sie überflüssigerweise würgte und dabei diesen seltsam rötlichen Abdruck mit den weißen Punkten hinterließ. Die Todesursache war mit anderen Worten also nicht Erwürgen, sondern Verbluten.
In Emilies Magen fand ich ein beinahe unverdautes Thunfischsandwich mit deutlich zu erkennenden Maiskörnern. Wir wussten, dass sie dieses Sandwich kurz vor ihrem Verschwinden gegessen hatte. Wenn ein Körper extremem Stress ausgesetzt wurde, stagnierte der Verdauungsprozess oftmals beinahe vollständig: eine weitere Bestätigung für das höllische Martyrium, das sie in den letzten vier Tagen durchlebt haben musste. Aber jetzt war es überstanden. Jetzt war es vorbei.
10
Nach der Obduktion rannte ich über die Treppe nach oben zu Nkem und erbettelte mir eine gebratene Banane und ein halbes warmgeräuchertes Lachsfilet; sie gab vor, gar kein ganzes zu schaffen. Darüber hinaus aber schwieg sie, ebenso wie ich. Während ich aß, vertiefte sie sich in einen Artikel und machte sich Notizen. Ich versuchte den Kopf frei zu bekommen und an absolut nichts zu denken, was mir schließlich auch gelang, denn es war vorbei – andererseits war mir vor Müdigkeit fast übel. Irgendwann hob Nkem ihren Blick und sah mich fragend an, war aber offensichtlich damit zufrieden, dass ich nur mit den Schultern zuckte. Beim letzten Stückchen Lachs sah ich auf meine Uhr: viertel vor zwei. Wenn ich mir die Freiheit nahm, fünf Minuten zu spät zu kommen, konnte ich mich vor der Obduktion des Motorradpolizisten noch zwanzig Minuten hinlegen. Sicher eine bessere Option als noch mehr Kaffee und Zigaretten. Ich berührte Nkem zum Abschied leicht
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