Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Kraftprobe ankommen lassen, sie hätte keine Chance gehabt. Aber es gab kein Kräftemessen, sie versuchte bloß irgendwie zu überleben, widerstandslos, wie ein Pflanzenfresser. Erbärmlich.
Was hätte ich getan, wäre ich eine kleine, dünne Frau Mitte vierzig gewesen, die von ihrem Sohn, der gerade erst Haare am Sack gekriegt hatte, bedroht wurde? Was hätte ich getan, hätte mir jemand auf diese Weise Gewalt angetan? Ich hätte geschrien und um Hilfe gerufen, hätte mit meinem Mann gesprochen, den Jungen zum Psychologen geschickt, in eine Erziehungsanstalt – irgendetwas. Oder ich hätte ihn totgeschlagen. Ich hätte auf jeden Fall etwas unternommen und mich nicht einfach meinem Schicksal ergeben. Natürlich gefiel ihr das alles nicht – das warmir durchaus klar –, aber es war ja auch nie beabsichtigt, dass es ihr gefiel.
Ich hatte Lust, Löcher in sie zu stechen, träumte nachts davon, denn dann musste sie doch endlich Widerstand leisten. Etwas in mir sehnte sich mit aller Macht danach, herauszufinden, ob irgendwo in ihrem Inneren eine Grenze verlief, und wenn ja, wo. Dabei war mir eigentlich die ganze Zeit über klar, dass sie sich ohne große Gegenwehr abschlachten lassen würde. So weit konnte ich allerdings nicht gehen, denn niemand sollte etwas wissen.
Ich durfte keine Spuren hinterlassen.
Geheimnisse sind zerbrechlich, man muss vorsichtig mit ihnen umgehen.
Ein paar Jahre später ließ ich sie fallen. Ich hatte nichts mehr davon, es mit ihr zu treiben, ihr Angst und Schrecken einzujagen. Der Rausch blieb aus. Sie war zu unterwürfig, wie ein Stück paralysiertes, zitterndes Schlachtvieh.
Ab jetzt richtete sich mein Blick auf meinen Vater.
11
Die Stille im Obduktionssaal war wie in Stein gemeißelt. Ich reagierte in Zeitlupe, Sekunden, aufgeblasen zu Stunden, in denen die Gedanken unverdaut und einsam Richtung Horizont drifteten und auf der anderen Seite der Erde verschwanden, um dort in einem schwarzen Loch zu versinken, das alles in sich aufsaugte und schluckte.
Schließlich drehte ich mich zu Poul um. »Denken Sie daran, die roten Flecken abzutupfen. Das ist das gleiche Zeug wie bei dem Mädchen, da bin ich mir sicher«, sagte ich heiser. Fast mechanisch. Dann wandte ich mich an die Techniker: »Haben Sie Proben von den roten Flecken genommen?« Die zwei Männer blickten verwirrt von den Kleidern des Polizisten auf.
»Welche roten Flecken?«, fragte einer von ihnen. Ich zitierte sie zu der Leiche und zeigte ihnen die geröteten Bereiche, die auch mir am Fundort noch nicht aufgefallen waren.
»Was ist das?«, fragte einer der Techniker.
»Das möchte ich auch gerne wissen. Sie sollten diese Stellen unbedingt abkleben.« Meine Stimme zitterte, aber jetzt hatte ich es gesagt.
Die vermummten Gestalten versammelten sich am Obduktionstisch, als wäre er ein Magnet. Ihre Stimmen wurden zu einem fernen Summen; das Ganze fühlte sich an wie ein Film, ich dagegen war soeben zur Zuschauerin degradiert worden.
»Poul, ich gehe mit der roten Farbe, die wir an der Leiche des Mädchens gefunden haben, nach oben zu Nkem. Nur damit Sie Bescheid wissen«, sagte ich mit noch immer zitternder Stimme. Ich fühlte mich nackt und winzig, als ich das Arsenal an Wattetupfern zusammenpackte und durch die Tür des Obduktionssaals schlüpfte. Draußen zog ich mir rasch den Kittel aus und lief nach oben zu Nkems Büro. Ich klopfte an und steckte den Kopf hinein.
»
Kedu?«
»Du siehst aus wie eine lebende Leiche,
nne «
, sagte sie und ließ ihren tiefschwarzen Blick mitfühlend auf mir ruhen, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich konnte sehen, dass ich sie bei der Arbeit störte, denn ihr Zeigefinger, auf der Oberseite tiefschwarz und auf der Unterseite fast weiß, ruhte auf der aufgeschlagenen Seite irgendeiner Publikation, die sie gerade las.
»Was machst du?«
»
Nsi
. Was willst du?«
Nsi
bedeutete Scheiße. Nkem fluchte fast nur auf Igbo.
»Die hier«, sagte ich und legte vier mal vier Wattetupfer in den entsprechenden Pappschachteln auf ihren Tisch. »Das ist ziemlich seltsames Zeug.« Ich erzählte ihr von der roten Verfärbung, die wir an den unterschiedlichsten Stellen auf Emilies Leiche und der des Polizisten gefunden hatten. »Wenn du Zeit hättest … möglichst bald? Ich meine, die Sache eilt wirklich. Drei Tage?«
»Aha«, sagte sie ohne zu lächeln, nickte aber. Nkem konnte schrecklich wortkarg sein, wenn sie beschäftigt war. Fast schien es, als sei ich ihr lästig, dabei ging es
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