Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Täter dann wissen, wie alt seine Opfer waren? Ich aß die Hälfte des warmgeräucherten Lachses und starrte aus dem Fenster. Wenn die Mädchen alle vor ihrer Ermordung in der Notaufnahme gewesen waren, hatte man dort mit Sicherheit ihre Daten aufgenommen, die damit jedem zugänglich waren, der einen Blick in den Computer warf. Ich ging – ohne Krücken oder nennenswerte Schmerzen – zum Schreibtisch und überflog noch einmal die Obduktionsberichte von Emilie und Camilla. Gerade als ich mir ihre ID-Nummern auf ein Blatt Papier notierte und Nkem anrufen wollte, klingelte mein Handy. Es war Steno.
»Ich habe die gesamte Kontaktkette abtelefoniert«, sagte er ohne Einleitung. »Mit sieben Leuten habe ich gesprochen, der Letzte geht nicht an sein Telefon. Ich habe keine Ahnung, ob das wirklich der Typ aus dem Munke Mose ist, aber ich gebe dir seinen Namen. Mach aber bitte keinen Blödsinn, schließlich ist es nicht sicher, dass er das wirklich ist. Er war einfach der Einzige in der Liste, den ich nicht erreichen konnte – sein Name ist Larry Tang Mortensen.« Wieder log er. Er hatte mir gerade den richtigen Namen gegeben – Tang Mortensen war einer der Männer aus dem Park.
»Was weißt du über ihn?«
»Nix. Er ist Krankenträger, das hat er jedenfalls mal dem Mann gesagt, der vor ihm in der Kette ist. Ein stiller, ruhiger Typ. Ansonsten weiß ich nichts.«
»Krankenträger«, wiederholte ich wie in Trance, bedankte mich und legte auf. Das passte zu der These, die Bonde Madsen und ich gerade aufgestellt hatten:
War er ein Arzt, der in der Notaufnahme arbeitete, ein Krankenpfleger oder einer vom Reinigungspersonal?
Wenn die ermordeten Mädchen mit ihren Verletzungen in der Notaufnahme gewesen waren, wären all die Informationen, die die Mörder brauchten, im Computer vermerkt – vom Alter bis zu den Adressen, die auf der Versichertenkarte standen. Die Täter konnten diese Informationen aufgeschnappt und die Mädchen dann eine Zeitlang beobachtet haben, um sich mit ihren Gewohnheiten vertraut zu machen. Ich rief Nkem an, obwohl sich ihr Büro nur ein Stockwerk über meinem befand.
»Kannst du mich in die Notaufnahme fahren?«
»Das ist jetzt zu spät, du musst innerhalb von achtundvierzig Stunden dahin. Glaubst du, dein Knöchel ist doch gebrochen?«
»Okay, hör mal …«
»Du sollst nicht überall rumrennen!« Sie schrie fast in den Hörer. »Du musst mit der Polizei sprechen!«
»Gut, dann nehme ich eben ein Taxi.« Die Fahrt, von der ichsprach, würde alles in allem vielleicht fünfundfünfzig Sekunden dauern, und Nkem reagierte, wie ich es erwartet hatte. Erst schwieg sie, dann sagte sie: »Gib mir zehn Minuten.«
Während Nkem sich bereitmachte, suchte ich aus dem Telefonbuch Larry Tang Mortensens Adresse heraus. Er wohnte in der Jernbanegade im fünften Stock eines Mehrfamilienhauses und hatte drei Handynummern. Ich speicherte sie in meinem Handy ein.
Jetzt brauche ich nur noch eine richtige Knarre
– diesen Gedanken konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
Liebes Tagebuch,
meine Mutter wurde ganz einfach überfahren. Angeblich hatte sie auf der Post ein Kostüm abgeholt, das sie im Internet bestellt hatte, und war auf dem Weg nach draußen direkt vor einen Lastwagen gelaufen. Jedenfalls war sie auf der Stelle tot. Meinen Vater traf das hart. Der Unfall geschah am Tag vor seiner feierlichen Verabschiedung in den Ruhestand, und so kamen sie nie nach Indien oder an einen der anderen Orte, die sie sich in all den Prospekten angesehen hatten.
Ich fühlte mich betrogen, irgendwie aber auch bestätigt: Wie dumm musste man eigentlich sein, um direkt vor ein Auto zu laufen? Das war ja fast schon amüsant.
Zu dieser Zeit absolvierte ich gerade das praktische Jahr meines Medizinstudiums in der Rechtsmedizin. Man sagte, ich hätte flinke Finger. Eigentlich gefiel es mir dort richtig gut. Die Rechtsmediziner waren kantig und hatten einen ganz speziellen Humor, auch wenn ihnen etwas Weibliches anhaftete, denn sie öffneten die Leichen nichts selbst. Dafür hatten sie spezielle Leute – sogenannte »Vorschneider«. Anscheinend erledigten nur die Rechtsmediziner in Aarhus das noch selber, aber ich konnte ja nicht sicher sein, in dieser Stadt des Lächelns jemals eine Anstellung zu bekommen. Dabei gab mir gerade dieser Teil einer jeden Obduktion den absoluten Kick: der Y-Schnitt, das Entnehmen der Organe, das Öffnen des Schädels mit der Kreissäge, das Aufwirbeln des Knochenstaubs, der sich wie
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