Toter Mann
sie dachte. Unterwegs hatte er ständig an sie gedacht. Und an den Mann, den er erschießen würde. Gestern hatte er ihn zum ersten Mal gesehen. Ein Gesicht. Er ist fast tot, so wie ich. Ich bin ein toter Mann, der durch die Straßen geht. In den USA sagen sie dead man walking. Ich bin auf dem Weg zur Hinrichtung eines anderen. Es ist aber auch meine eigene. Die Hinrichtung des Henkers, bald. Es wird bald geschehen. E-ner-gie-ver-schwendung. Wieder tauchte das Wort in seinem Kopf auf. Fast murmelte er es, wenn ihm jemand begegnet wäre, hätte er es hören können. Aber ihm begegnete niemand. Der Regen war stärker geworden. Jetzt stand er vor dem Hauseingang. Er drehte sich um, das Auto war nicht da, oder besser gesagt: Er sah es nicht. Es war da, natürlich war es da. Er schaute an der Hausfassade hinauf. Die meisten Fenster waren erleuchtet. Auch die im dritten Stock. Die Wohnung besaß einen Balkon. Gestern hatte er ihn gesehen. Der Mann hatte auf seinem Balkon gestanden, den Blick in die Ferne über die Hausdächer gerichtet. Er sah seine eigene Hand vor sich. Er gab den Türcode ein, den er gestern unter anderem von ihnen bekommen hatte. Auch das. Es summte in der Tür, wie ein kleiner Bienenschwarm. Er drückte die Tür auf.
Bergenhem stand vor dem verlassenen Auto. Der Motor lief nun schon lange im Leerlauf. Wenn er länger als eine Minute lief, war das in Göteborg ein Verstoß gegen die Verkehrsordnung. Bergen-
hem zog Handschuhe an, beugte sich vor und schaltete den Motor ab. Im Zündschloss steckte kein Schlüsselbund, nur ein einzelner Schlüssel. Bergenhem stand nach Süden gewandt und sah das flackernde Blaulicht des geparkten Streifenwagens. Es mischte sich mit dem blauroten Himmel. Er hörte eine langgezogene Sirene wie einen Gruß. Er hatte seine Taschenlampe angeknipst und leuchtete den Innenraum des Autos ab. Die Sitze waren mit hellem beigem Leder bezogen. In der Rückenlehne des Beifahrersitzes entdeckte er ein Loch. Es sah aus wie das Loch von einem Geschoss. Er beugte sich weiter nach vorn und richtete den Lichtstrahl darauf. Im Auto blitzte etwas auf. Er beugte sich noch weiter vor. Es war eine Kugel, eine Kugel aus einer Pistole oder einem Revolver. Die weiche Polsterung hatte sie abgefangen, die Kugel sah ziemlich unbeschädigt aus, ja, zum Teufel, es war eine Kugel. Er leuchtete noch einmal alles ab, konnte aber keine weiteren Löcher entdecken. Dann schob er sich rückwärts aus dem Auto und rief die Leitzentrale an.
Die Leute von der Spurensicherung waren gekommen. Erika Djurberg fotografierte. Die Blitze hatten jetzt keine Leuchtkraft mehr. Über Meer und Land zog der Morgen herauf. Erika Djurbergs Kollege hatte einen Blick ins Auto geworfen und untersuchte nun die Umgebung. Der Fundort war genauso wichtig wie der Gegenstand. Warum hier? Warum nicht dort hinten? Warum auf der Brücke? Warum nicht an Land?
»Ich hab kein Blut gesehen«, sagte Bergenhem. Lars Östensson antwortete nicht.
»Aber jemand hat einen Schuss abgegeben«, fuhr Bergenhem fort.
»Das sehe ich«, sagte Östensson und schaute auf. »Könnte ein Neun-Millimeter-Geschoss sein.«
Bergenhem nickte.
»Aber wenn wir Glück haben, ist es auch etwas Ungewöhnlicheres«, sagte Östensson. »Das erfahren wir in der Untersuchungshalle.«
Er hatte einen Bergungswagen angefordert, der das Auto in die Untersuchungshalle der Kriminaltechnik in Mölndal bringen sollte.
»Hast du schon den Besitzer erreicht?«, fragte Östensson. »Nein.«
Bergenhem hatte sich sofort bei der Zulassungsstelle erkundigt, nachdem er aus seinem eigenen Auto gestiegen war. Als Halter war Roger Edwards, Eckragatan 44, Västra Frölunda registriert. Eckragatan, das war in Långedrag, ein Stück weiter westlich. Bergenhem sah den Stadtteil von dem Platz, wo er stand, jedenfalls konnte er ihn sich vorstellen. Er sah die Neue Werft und Stora Billingen vor sich, die Basis der Kriegsmarine vor Hästevik, sowie Tångudden und Långedrag.
Bergenhem trat näher an die Brüstung und schaute hinunter. Es war beängstigend hoch. Ein Abgrund. Von Westen näherte sich ein blauweißes Schiff. Es war die Wasserschutzpolizei von der Neuen Werft. Wenn es dort unten eine Leiche gab, würden sie sie finden. Würde es dann Roger Edwards sein? Am Ende allzu lebensmüde. Hatte er versucht, sich zu erschießen, aber die Hand hatte zu sehr gezittert, und darum hatte er einen sichereren Ausweg gewählt?
»Das Auto ist nicht gestohlen gemeldet«, sagte Bergenhem.
Er
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