Toter Mann
sickerte Tageslicht herein. Es war noch immer grau. Winter ließ sich in einem der Sessel nieder. Berit Richardsson verbarg ihr Gesicht in den Händen. Im Haus war es still. Die Kinder mussten in der Schule sein. Es war bestimmt kein Vergnügen, in die Schule zu gehen, wenn nach dem Vater gefahndet wurde. Wie zum Teufel sollte man sich da konzentrieren?
Sie hob das Gesicht. Winter sah dunkle Ringe unter ihren Augen, als hätte sie sich schlecht geschminkt.
»Falls Sie mich nach Jan fragen wollen, dann ist die Antwort nein.«
»Ich hatte nicht vor, Sie danach zu fragen.« »Was wollen Sie also?«
»Wie geht es den Kindern?«
»Den Kindern? Was meinen Sie?« »Sind sie in der Schule?«
»Ja ... und nein. Tova ist in der Schule. Erik hat frei.« »Wo ist er?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
Keine oder eine sehr große, dachte Winter. Aber die Frage lasse ich erst einmal auf sich beruhen. Eventuell stelle ich sie später. Oder sie erübrigt sich.
»Haben Sie eine Vermutung, wo Ihr Mann im Augenblick sein könnte?«
Sie lachte kurz auf. Ihre Stimme klang plötzlich heiser.
»Es klingt wie eine dumme F rage«, sagte Winter, »aber ich weiß nichts über Ihren Mann. Im Unterschied zu Ihnen.«
»Was sollte ich denn wissen?«
Plötzlich sah sie aus, als wüsste sie auch nicht mehr als Winter.
Vielleicht war es so. Wie Winter erfuhr sie erst jetzt etwas über ihren Mann. Was er herausfand waren auch für sie Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten.
»Gibt es einen besonderen Ort, wo er sich aufhalten könnte?« Sie antwortete nicht.
»Besitzen Sie ein Sommerhaus oder etwas Ähnliches?« »Nein.«
»Freunde? Verwandte?«
»Ich glaube nicht, dass die ihn verstecken«, antwortete sie mit klarerer Stimme. »Dann hätten sie mich angerufen. Die Verwandten ... und auch die Freunde.«
Das letzte Wort zog sie in die Länge. Winter las in ihrem Gesicht. Es gab nicht viele Freunde. Zu ihnen war Richardsson nicht geflüchtet.
»Und wenn er nicht mehr lebt?«, fragte sie sehr leise. Sie suchte Augenkontakt zu Winter.
»Warum sollte er nicht mehr leben?«
»Glauben Sie das etwa? Dass er nicht mehr lebt?«
»Wer sollte ... wie soll ich das ausdrücken ... wer sollte ihm den Tod wünschen?«
»O Gott«, sagte sie. »Was für ein Gespräch.« »Wurde Ihr Mann bedroht?«, fuhr Winter fort. Sie schüttelte den Kopf.
»Oder Sie? Die Familie?«
»Nein.«
»Fällt Ihnen nichts dazu ein? Irgendetwas. Vielleicht haben Sie es nicht einmal als Drohung empfunden. Etwas, worüber Sie erst hinterher nachgedacht haben.«
»Nein.«
»Hat Ihr Mann einmal erwähnt, dass er bedroht wurde? Dass er irgendwelche Probleme hatte? Mit jemandem?«
»Nein ...«
In ihrer Antwort lag jedoch ein Zögern. Vielleicht hatte sie ihren Mann gefragt. Oder im Stillen über etwas nachgedacht.
»Wir möchten wissen, woher Ihr Mann Bengt Sellberg kannte.« »Ich weiß es nicht.« Die Antwort kam schnell.
»Sie wissen nichts über ihn? Jetzt, nachdem Sie Zeit hatten, ein bisschen darüber nachzudenken, ist Ihnen nichts eingefallen? Haben Sie den Namen noch nie gehört?«
»Nein!!«
Sie schrie. Winter zuckte zusammen. Wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, als wollte sie allem entkommen. Den Kopf in den Sand, den Kopf in die Hände.
»Nein«, sagte sie, die Hände immer noch schützend vor dem Gesicht. »Können Sie mich nicht in Frieden lassen?« Die Worte waren geschlossen wie die Hände, als kämen sie aus einem Tunnel, einem geschlossenen Raum. »Darf ich jetzt nicht allein sein?«
Sie ist schon vorher dort gewesen, dachte Winter. Hat Schutz gesucht, in dem Tunnel. Sie hat Schutz gebraucht. Vielleicht die ganze Familie. Der Sohn, Erik. Die Tochter. Vor wem mussten sie sich schützen? Vor was haben sie versucht, sich zu schützen? »Haben Sie vor etwas Angst, das mit Sellberg zu tun hat?«, fragte er.
Sie antwortete nicht. Winter konnte ihr Gesicht nicht sehen. Er wiederholte die Frage. Sie schüttelte den Kopf, der weiterhin in ihren Händen verborgen war. Die Hände zitterten. Winter bekam plötzlich Angst vor dem, was passieren, was er ausgelöst haben könnte. Er stand rasch auf, ging zu der Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen und nahm die Hände vom Gesicht.
»Gehen Sie«, sagte sie.
»Haben Sie niemanden, der bei Ihnen sein kann?«, fragte er. »Sie sollten nicht allein bleiben.«
»Erik und Tova kommen bald nach Hause.«
»Sie sollten keinesfalls allein sein«, sagte Winter. »Gibt es
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