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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam E. Maas
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es um Drogen ging. Sie hassten Obdachlose, sie hassten Junkies, sie hassten so ziemlich all ihre Kunden.
    Ab und zu hatte er das Gefühl, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Aber wieso sollte sie ihn dann pflegen? Es hätte gereicht, ihn vor einem Krankenhaus abzusetzen. Dann hätte sie anonym bleiben können und auch keinen Stress mit den Behörden bekommen.
    Es machte keinen Sinn davon auszugehen, dass sie ihn nicht mochte. Nein, dieses eine Mal hatte Sebastian Glück gehabt! Er hatte tatsächlich eine gute Seele getroffen. Das es so etwas noch gab!
    Er musste endlich damit aufhören so misstrauisch zu sein, denn er stand sich grundsätzlich selbst im Weg. Fieber, Depression, Paranoia — Träume von einem Abgrund. Was hatte Tina gesagt? Das Träume logen. Sie war eine Chance, mit ihr an seiner Seite konnte er weiterleben.
    Sie lachte gerne, sie wurde schnell wütend und wenn sie wütend wurde, machte er sich möglichst klein. Tina war zwar zierlich und einen ganzen Kopf kleiner als er, aber sie konnte richtig unheimlich werden. Es war ihr Blick, dieser unbändige Wille und die Energie dahinter. Sie gab nicht nach, auch wenn sie ganz klar im Unrecht war. Wenn man ihr Widersprach, wie der arme Pizzajunge, wurde sie zur Furie. Die Kraft, die plötzlich in ihr aufflammte, ließ ihren kleinen Körper von einer Sekunde auf die andere bedrohlich wirken. Gott, wüssten die Nachrichtensprecher, wer ihnen da zusah!
    Wenn ihre Augen sich auf seine legten, musste er automatisch wegsehen, sogar wenn sie gut gelaunt war.
    Sie hatte, was ihm fehlte und das war Mut. Deshalb hatte sie auch einen Fremden in ihrer Wohnung aufnehmen können. Ihn, einen dummen Junkie, den sie nachts im Park getroffen hatte.
    Überschätzte sie sich wirklich nicht? Andere Männer hätten längst schon verrückte Sachen mit ihr angestellt. Sie konnte unmöglich so naiv sein. Klar, er war krank und schwach gewesen, doch war er dabei sich zu erholen. Nicht, dass er irgendetwas vorgehabt hätte. Nein, es ging ihm darum, in welche Gefahr sie sich gebracht hätte, wäre er jemand anderes gewesen. Sie durfte sich nicht allen ernstes solchen Gefahren aussetzen. Sie schlief sogar neben ihm. Dabei hatte sie ein Schlafzimmer, das sie verriegeln konnte.
    Sebastian merkte, dass er Gefühle für sie entwickelte und die Erfahrung lehrte, dass auf Gefühle unweigerlich Schmerzen folgten. Das hieß wiederum, dass er in Gefahr war und nicht sie. Oh je, würde sie doch bloß in ihrem Zimmer schlafen!
    ***
    Sie sahen sich Harry Potter an, alle acht Teile über wenige Tage verteilt. Tina hatte ein Ritual entwickelt, vor jedem Film verschwand sie kurz in der Küche, um sich frisches Popcorn zu machen und wenn sie dann zurückkam, in einer Hand das Popcorn und in der anderen eine Flasche Bier, blieb sie kurz im Türrahmen stehen und sagte mit verstellter Stimme „Harry Potter is dead“ und lachte anschließend schrecklich vor sich hin, „ehhehhäh“ oder so ähnlich.
    Erst später verstand Sebastian, dass sie den Oberbösewicht imitierte. Es waren solche Dinge, die in ihm das Gefühl weckten, dass Tina mit der falschen Seite sympathisierte. Denn anscheinend gehörte es genauso zu ihrem Ritual, die Helden der Filme schlecht zu reden. So geschah es wieder am Ende des letzten Films.
    „Das ist vielleicht mal eine Scheiße.“
    „Ich dachte, du magst die Filme“, sagte Sebastian.
    „Tu ich doch.“
    „Häh?“
    „Trotzdem sind sie scheiße, weil nicht realistisch.“
    „Zum Beispiel?“
    Ihre Augen durchbohrten ihn und er sah weg.
    „Wieso machen die Kinder nicht von moderner Technik Gebrauch?“, fragte sie endlich, wartete jedoch keine Antwort ab. „Die Kinder, wenigstens die, die in der normalen Welt aufgewachsen sind, sind alt genug und müssten daher schon genug ferngesehen haben, um zu wissen, dass die Gruppe mit den besseren Waffen, der besseren Ausrüstung und der besten Taktik gewinnt. Siegen ist das Ergebnis sorgsamer Planung. Die Kinder haben lediglich zufällig gewonnen, obwohl der Schuldirektor vorgibt einen Plan zu verfolgen und sie eine Prophezeiung auf ihrer Seite haben … die Prophezeiung … dabei deutet alles auf Freien Willen hin, nicht auf Determinismus.“
    Determinismus? Sebastian hatte das Wort schon mal gehört, aber er hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen. Hatten sie denselben Film gesehen? Freier Wille, sie meinte, die Fähigkeit des Menschen Entscheidungen selbstständig zu treffen. Wieso war es ihr so wichtig? Die Filme folgten

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