Totgelebt (German Edition)
es in genau diesem Moment wieder stimmte. Heute kamen ihr die Gesprächspausen nicht quälend lang und verkrampft vor, heute genoss sie den Moment einvernehmlicher Ruhe. So schnell kann sich das ändern, dachte sie. Wie gerne würde ich diesen einen Moment anhalten und dieses Gefühl für immer in mir tragen, dachte sie. Dann setzte sie sich auf und sah Anne beschwörend an: „Wollen wir noch einen Film gucken?“, versuchte Paula Anne zu überreden und schob schon eine DVD in den Player. Nach einer Stunde gähnte Anne und demonstrierte damit, dass sie zu müde für das Ende des Films war. „O kay , lass uns ins Bett gehen.“, lenkte Paula ein. Anne erhob sich und Paula räumte den Tisch ab, schaltete das Licht aus und ging ins Schlafzimmer, während Anne sich im Bad fertig machte.
Als beide nebeneinander im Bett lagen, nahm Anne Paula von hinten in den Arm und zog sie sanft an sich. Paula genoss das Gefühl, sie fühlte Annes Brüste an ihrem Rücken, ihren Arm um ihren Körper, ihre Hand auf ihrem Bauch. Sie wäre am liebsten in diesem Zustand verharrt, hätte gerne die Zeit angehalten . Sie hatte Anne so unglaublich vermisst. Was war eigentlich passiert, wie kann alles so aus dem Gleichgewicht geraten, fragte sie sich. Und zugleich ist es erstaunlich, wie schnell sich die Probleme plötzlich von selber lösen . Anne schaltete das Licht aus und schmiegte sich wieder an ihre Freundin. Wie schnell das alles gehen kann, dachte Paula. Wie schnell man den Boden unter den Füßen verliert und denkt, es geht einfach nicht mehr. Womit sie wieder beim Thema war.
„Meinst du, dass sich ein junges Mädchen umbringt, nur weil sie mit ihrer Mutter nicht klar kommt? Nur weil die Mutter trinkt? Meinst du, das reicht aus, um das Leben unerträglich zu finden?“, fragte sie Anne nach ihrer Meinung.
„Wenn es keinen anderen Halt im Leben gibt, vermutlich schon. Menschen bringen sich aus ganz unglaublichen Gründen um, zum Beispiel weil sie Angst haben, zu versagen, sie halten dem Druck einfach nicht Stand und fühlen sich überfordert. Oder aus Liebeskummer oder wegen einer Krankheit. Oder auch, weil sie finanzielle Sorgen haben. Depressionen gelten auch als eine der Hauptursachen für Selbstmord.“
„Aber es gibt doch Anlaufstellen, bei denen ich mir Hilfe suchen kann. Es gibt doch bestimmt Mittel und Wege, ein so junger Mensch kann doch deswegen nicht einfach sein Leben wegwerfen“, gab Paula zu bedenken.
„ D as sagt die Richtige“, lenkte Anne das Gespräch in andere Bahnen, „Du denkst doch auch immer direkt an das Schlimmste. Und ausgerechnet du sagst nun, dass es immer einen Weg gibt. Das Problem ist doch, dass diese Hilfe auch gesucht und angenommen werden muss. Ich muss für mich selbst erst einmal erkennen und akzeptieren, dass ich Hilfe brauche. Dann ist es wichtig, dass andere Menschen für mich da sind, die mich darin bestärken, diese Hilfe anzunehmen. Wenn niemand da ist, der sagt: „Es geht auch anders, du schaffst das, ich helfe dir und zeige dir konkrete Wege aus der Krise auf“, dann sieht man gar kein Licht mehr und es wird immer schlimmer. Und irgendwann ist es dann soweit, dass man einfach nicht mehr kann.“
„Vermutlich hast du recht.“, gab Paula zu. „Aber woher bekommt dieses Mädchen die Waffe. Da ist so vieles im Unklaren. Und wir haben so wenig Zeit und Kapazitäten, da dieser Fall nicht als Mordfall gehandhabt wird. Und da ist dieser Mord an dem Asylbewerber, da ermitteln so viele Kollegen, so dass Max und ich hier alles alleine machen müssen. Ich verstehe nicht, wo sie die Waffe her hat.“
„Waffen kann sich inzwischen fast jeder besorgen. In Zeiten des Internets ist eigentlich gar nichts mehr unmöglich. Schau dir mal an, was du alles bei ebay ersteigern kannst. Keine Waffen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine Schwierigkeit darstellt, an eine Waffe heranzukommen.“
Dann küsste Anne Paulas Nacken, gähnte und wünschte ihr eine gute Nacht. „Träum von mir“, sagte Paula. Trotzdem konnte sie nicht schlafen , sie dachte über Annes Worte nach .
13. Kapitel
Leon hatte seinen Wecker auf Punkt viertel nach elf gestellt. Das wäre allerdings gar nicht nötig gewesen, denn er konnte sowieso nicht schlafen, er lag im Dunkeln in seinem Bett und starrte viertelstündlich auf seinen Wecker. Die Zeit schlich dahin. Ihm kam es so vor, als ob er schon seit Stunden hier liegen und auf die erlösende Zahl elf warten würde. Nach dem Abendessen in der
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