Totgelebt (German Edition)
zwischen den beiden nicht zu gefährden. Sie grub ihr Gesicht tiefer in Annes Haare. Diese schwieg. „Sag mal, was glaubst du, wer sich im Internet in Chatrooms trifft und in Foren?“ fragte sie Anne.
„Hat das was mit den Selbstmorden zu tun? Haben sich die beiden im Internet kennen gelernt?“, Anne schien interessiert zu sein und Paulas merkwürdiges Verhalten kurzzeitig zu vergessen.
„Nein, wir glauben nicht, dass sich Lotte und Leon kannten, aber es besteht die Möglichkeit, dass die beiden auf den gleichen Seiten verkehrt haben und dort auf die dritte Person gestoßen sind, die bei beiden Selbstmorden zugegen war. Was glaubst du, wer chattet oder tauscht sich in Foren aus? Extrovertierte Menschen, stille Menschen? Arme Menschen, reiche Menschen, Aufschneider, Selbstdarsteller? “
Anne schwieg und dachte nach „Das Netz bietet alle Informationen, die man haben möchte. Es gibt keinen anderen Ort, wo so viel Wissen gebündelt zur Verfügung steht. Hm, also Selbsthilfe-Foren zum Beispiel, oder auch einfach einsame Leute, die im realen Leben nicht so kontaktfreudig sind, die se lernen im Netz leichter Leute kennen, weil es anonym ist. Und dann auch so Party-Mäuse, die einfach neue Leute kennen lernen möchten, die ihren ohnehin schon großen Bekanntenkreis erweitern wollen.“
Paula dachte an Max Worte: Der gemeinsame Nenner war der Selbstmord. „Wir haben zwei Verbindungen bei den beiden: Die beiden haben überaus häufig im Internet gesurft und die beiden waren verzweifelt, depressiv, haben dann Selbstmord begangen.“ Paula ließ die Worte einige Sekunden im Raum stehen, bis sie selbst drauf kam. Sie schluckte und setze sich abrupt auf. Anne schien die gleiche Verbindung herzustellen, denn auch die drehte sich blitzschnell um.
18. Kapitel
Erik hielt das Blatt Papier in seiner Hand, als ob es seine Lebensversicherung wäre, als ob ihm dieses Stück Papier zu einem besseren Leben verhelfen würde. Er war sich nicht ganz sicher, was er nun damit anfangen sollte. Er wusste genau, was das alles zu bedeuten hatte, er hatte es ja geahnt, aber jetzt hatte er auch Beweise. Er hatte alles gesehen, er wäre ein guter Zeuge und nun hatte er auch noch die dazu passenden Beweise. Wem nutz te das schon? Sie ist ja eh weg, sie ist ja tot. Und vermutlich hätte sie es auch nicht gewollt. Sie wollte doch sterben. Der Kerl hatte sie ja nicht richtig dazu gezwungen. Er hatte genau gesehen, wie sich Lotte die Waffe an den Kopf gesetzt hatte. Der Kerl hatte sie dabei nur angestarrt und gefilmt. Hatte sie nicht berührt, das konnte er schwören, vermutlich würde er dem Typen auch noch helfen, wenn er zur Polizei gehen würde. Hätte der Typ sie angefasst, es ihr gemacht oder so, dann wäre er dazwischen gegangen, hätte ihn in die Flucht geschlagen, aber so war es ja nicht gewesen . Lotte wol lte das ja alles so. Er war hin und her gerissen. Vielleicht könnte er ne Menge Geld machen, wenn er diesen Perversen selber aufstöbern und auf die ganze Sache ansprechen würde. Das war eine Idee. Dann könnte er auch endlich aus diesem Loch verschwinden, endlich weg von der Alten. Aber eben auf einem besseren Weg als Lotte. Er hatte eh nichts mehr zu verlieren. Auf seinem Bett lagen jetzt nicht nur die Zeitungen mit den Bildern seiner Schwester, daneben lagen auch die Zeitungsausschnitte mit den Artikeln über den zweiten Selbstmord. Er hatte die Artikel immer und immer wieder gelesen. Musste eine Entscheidung treffen. Nicht nur er, auch die Presse hatte die Verbindung zwischen dem Tod seiner Schwester und Leon hergestellt. Vielleicht suchte sich dieser Kerl noch andere aus. Wahrscheinlich sogar. Warum wohl? Aber was hatte er eigentlich damit zu tun? Wenn die scheiß Polizei nicht von selbst darauf kam. Er setzte sich wieder aufs Bett, vergrub sein Gesicht in seine beiden Hände und begann heftig zu weinen, sein ganzer Körper bebte und wurde erschüttert, er konnte nicht mehr aufhören. Die ganze Anspannung der letzten Tage brach aus ihm heraus. Er bekam keine Luft mehr und putzte seine laufende Nase am Ärmel seines Sweatshirts ab. Dann ergriff ihn eine neue Welle und weitere Tränen liefen ihm über das ganze Gesicht. Er hustete, er hustete so stark, dass er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Er fühlte sich nun komplett leer, als ob seine ganzen Gefühle mit den Tränen seinen Körper verlassen hatten, er fühlte sich gereinigt. Er fühlte sich besser, ein kleines bisschen besser. Er hatte sich eine
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