Totgelebt (German Edition)
Lösung überlegt: Ich mache einen Kompromiss, wenn Morgen auf Lottes Beerdigung einer von den Bullen auftaucht , dann werde ich denen im Laufe der Woche erzählen, was ich weiß. Wenn nicht, dann haben sie halt Pech gehabt. Dann interessieren sie sich ja auch nur einen Scheißdreck für mich oder für Lotte.
19. Kapitel
Er hatte wieder von ihr geträumt, er träumte fast jede Nacht von ihr, immer der selbe Traum. Seine Mutter war so unendlich groß und so unendlich traurig. Sie überragte ihn um Längen, mehrere Köpfe. Er war sieben Jahre alt und verstand nicht, was vor sich ging. Sie war immer traurig, lachte nie. Sie spielte nicht mit ihm, immer wenn er sich an sie schmiegen wollte, einfach nur ein bisschen Aufmerksamkeit, Wärme und Geborgenheit haben wollte, schüttelte sie ihn nur ab, wie eine lästige Schmeißfliege. „Hau ab“, schrie sie ihn an. Er war zu klein, er verstand nicht, was mit ihr los war. Tagelang lag sie auf der Couch im Wohnzimmer und heulte nur den ganzen Tag. Er stand vor der Couch und starrte zu ihr hoch, sie nahm gar keine Notiz von ihm, sie beachtete ihn nicht. Er existierte an diesen Tagen für sie gar nicht. Er konnte sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem er als Kind glücklich gewesen war, bis auf den einen Tag. Seine Mutter stand an diesem einen Tag von der Couch auf, nachdem sie den ganzen Tag dort apathisch gelegen hatte, dann ging sie zu dem großen Schrank im Wohnzimmer, ihn beachtete sie keinen Augenblick, sie überging ihn einfach. Er war nicht da für sie. Doch er verfolgte gebannt jede Bewegung seiner Mutter. War fasziniert von ihr. Sie holte etwas aus dem Schrank heraus, er konnte es nicht genau erkennen. Es war eingewickelt in ein Stofftaschentuch. Es war nicht besonders groß. Sie nahm es in ihre Hand und ging ins Badezimmer. Er rannte neugierig hinter seiner Mutter her. Wollte wissen, was sie dort tat, was sie in ihrer Hand versteckt hatte, die Türe war nur angelehnt, also stupste er sie ein bisschen auf, lautlos, seine Mutter bemerkte es nicht einmal, oder es war ihr einfach, wie immer, egal. Seine Mutter zog sich aus. Er dachte erst, sie würde ein Bad nehmen, doch sie ließ sich kein Wasser einlaufen. Sie stand komplett ausgezogen im Bad. Stellte sich vor den Spiegelschrank und betrachtete ihr eigenes unglückliches, von den Tränen geschwollenes Gesicht. Sie sah erbärmlich aus. Sie hielt etwas in der Hand, er konnte es nicht genau erkennen, dann sah sie zu ihm hinüber, sie sah ihn, erkannte ihn, nahm in richtig war. Das sah er in ihren Augen. Er sah diesen Ausdruck das erste Mal in seinem Leben. Er existierte für seine Mutter. Dann sagte sie „Es ist gut so. Mir wird es bald besser gehen. Ich bin endlich erlöst.“ Und dann setzte sie sich das Ding in ihrer Hand an den Kopf, eine Waffe erkannte er jetzt, beobachtete sich dabei selbst im Spiegel und drückte ab. Und er schaute zu, beobachtete die ganz Szene wie im Fernsehen. Und er war fasziniert. Er war zu jung um zu begreifen, dass sie nie wieder aufstehen würde, dass die riesige Blutlache echtes Blut war und seine Mutter für immer aus seinem Leben verschwunden war. In diesem Augenblick empfand er ein merkwürdiges Gefühl, der ganze Anblick erregte ihn, machte ihn nervös, er machte ihn glücklich, er befriedigte ihn. Es fühlte sich seltsam wohlig und geborgen, warm und glücklich an. Erlöst, sagte er sich immer wieder, seine Mutter war erlöst. Das war etwas Gutes. Später sagten ihm alle, seine Mutter hätte unter schweren Depressionen gelitten. Nie vergaß er diesen Moment, es war der eine Moment seiner Kindheit, in dem er sich einmal beachtet und sicher fühlte. Seine Mutter hatte richtig gehandelt, das verriet ihr entschlossener Ausdruck in ihren Augen. Von diesen entschlossenen Augen träumte er nachts häufig. Sie zeigten ihm den Weg, er wusste, was er tat, war gut und richtig. So war es auch dieses Mal, er hatte noch die Gesichtszüge seiner Mutter vor Augen, als ihn der Wecker aus dem Traum holte. Er war wie benommen, musste sich erst kurz zurechtfinden. Er bemerkte, dass er eine Erektion hatte, sein ganzer Körper war in Aufruhr. Er schüttelte seinen Kopf, fuhr sich durch die Haare, aber der Traum war noch zu frisch, zu real. Also tat er das, was er meistens nach diesem Traum tat. Er schaltete den Videorekorder an und schaute sich eines der Videos an. Dieses mal nahm er das Video des kleinen Jungen, wie hieß er noch gleich, Sean. Das Video begann damit, dass Sean sich
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