Totgelebt (German Edition)
genommen wird. Sie konnte die Ohnmacht der Gefühle einfach nicht in Wort e fassen. Sie hatte das Gefühl, ihr Körper sei plötzlich zentnerschwer geworden. Es war für Paula derzeit eine unendliche Last und Anstrengung den Körper zu erheben und in Gang zu setzen. Sie konnte im Moment einfach nur nachdenken und grübeln und versuchen, das Geschehene zu begreifen, immer und immer wieder, bis sie in der Realität angekommen war.
Ein Stück Realität hatte sie gestern erfasst, der kleine zarte Körper wurde in die Erde hinab gelassen. Sie konnte ihren Blick dabei nicht vom lehmigen Boden wenden, diese Erde würde Fynn nun für immer umgeben, ihn bedeckten, von nun an Fynns ständiger Begleiter sein. Sie hatte Bilder vor Augen, wie Fynn eingekerkert in seinem kleinen stickigen weißen Sarg ganz tief unter der Erde lag . Im Finsteren, ohne Luftzug, ohne Lichtschimmer. Wie Fynn verzweifelt nach seiner Mutter, nach ihr ruft, in Todesangst, wie er qualvoll ganz unten unter Massen von Erdschic h ten erstickt. Diese Erde würde alles Leben aus ihm saugen, nichts als feuchte, klamme, schlammige Erde um Fynn herum. Sie schlucke. Sie hatte versucht, Anne davon zu erzählen, ihre Bilder, die sie vor Augen hatte, sie hatte es versuchte, „Paula, Fynn ist tot.“, hatte Anne geantwortet und ihre Hand gedrückt. Als ob diese Erkenntnis Paulas Ängste nehmen würde, dass Fynn nun ganz tief unten irgendwo vergraben war, seine zarte, weiße, makellose Haut, zerfressen von Maden. Sie schüttelte den Kopf. „Erde zu Erde , Staub zu Staub “, hatte der Pfarrer gesagt und damit begonnen Erde auf Fynn zu schütten. Sie hätte schreien und ihm die Schaufel aus der Hand schlagen können. Blumen, die waren leicht, luftig, die ließen Fynn ausreichend Luft zum Atmen. Als sie mit Anne am Grab stand und hinab in das winzige Grab sah, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass Fynn nun da unten lag. Er war doch schon viel größer gewesen, er konnte einfach nicht in diesen kleinen Sarg passen. Anne und Paula hatten ihm Blumen zugeworfen, sie hatte sich vorgestellt, wie er die Blumen fangen würde, dann würde er die einzelnen Blätter abzupfen und zu ihr sagen, „Paula, was sind das für Blumen? Warum sind die so rot? Warum ha ben die einen Stachel und die ander e n nicht?“. Die Vorstellung erfüllte sie plötzlich mit einer unbeschreiblichen Wärme, sie spürte fast Fynns Nähe, hatte seinen Geruch in der Nase. Er hatte Blumen immer geliebt. Am liebsten hätte sie alle Trauergäste zurückgehalten und ihnen verboten Erde in das Grab zu schütten. Doch Paula brachte keinen Ton heraus. Anne führte sie langsam vom Grab weg und sie stellten sich zu Paul a s Mutter und Svea . Beide waren ebenso stumm wie sie.
Den Rest des Tages hatten sie zu Hause verbracht, wo Paula nur gegen die Wand starrte. Es ging ihr einfach zu viel durch den Kopf, sie konnte die Gedanken alle gar nicht einfangen und ordnen. Die Gedanken huschten hinein in den Kopf, setzten sich kurz fest und flogen schon wieder weiter, sie bekam die Gedanken einfach nicht zu fassen, sobald ein neuer Gedanke angeflogen kam, wusste sie schon nicht mehr, was der vorherige war. Gegen Abend setz t e Anne sich zu ihr auf den Boden, erst mit etwas Abstand, dann rückte sie näher. Als sie merkte, dass Paula ihre Nähe zuließ, legte sie vorsichtig einen Arm um ihre Schulter. „Süße, du schaffst das. Es darf dich nicht komplett auffressen. Lass das nicht zu. Dein Leben geht weiter. Paula, du lebst. Rede, mit mir, oder einem anderen Menschen, wenn dir das lieber ist und dir hilft, aber rede. Du verlierst dich schon immer bei Kleinigkeiten, das ist zu groß, um es alleine zu schaffen.“ Sie suchte Paulas Blick. „Ich liebe dich. Und ich bin da, immer.“ Paula legte ihren Kopf auf Annes Schulter ab. So blieben sie stumm lange nebeneinander sitzen. Es tat gut Anne zu spürten, ihre Stärke. Anne gestattete Paula schwach zu s ein und stumm, sie ließ Paula ihre quälenden Gedanken durchleben und war da, wenn Paula sie brauchte. Anne war einfach da.
Max fasste für Paula die Neuigkeiten der letzten Tage zusammen. Bis auf einen zweiminütigen Aufenthalt im Forum am gestrigen Abend, war der Erlöser nicht mehr in Erscheinung getreten. Während seines Besuchs im Forum hatte er keinerlei Kommunikation betrieben. Dann stand Max auf. „Wenn du möchtest, hole ich uns was zu essen?“, Max wedelte mit seinem Portemonnaie. “Ich spendier was. Deine Chance. Jetzt oder nie.“
Paula schüttelte
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