Totgelebt (German Edition)
seine Samstagabend Verabredung treffen konnte. Seit zwei Stunden war s ie im Forum eingeloggt, der Erlöser ließ sich allerdings nicht blicken. Im Forum waren acht Leute eingeloggt. Es war Wochenende, da war offenbar mehr los als in der Woche. JustSad, Specter und ToBi waren, wie jeden Abend, auch anwesend. Emma16 hatte sich in den letzten Tagen verstärkt auf Lil und JustSad konzentriert. Emma16 hatte versucht, einen Kontakt zu den beiden aufzubauen. Gemeinsam mit Max hatte sie sich vorhin schon mit JustSad kurz im eigenen persönlichen Chatraum unterhalten. Ohne großen Erfolg, das Gespräch hatte keine Neuigkeiten ergeben. Ansonsten hielt sich Emma16 zurück, solange der Erlöser sich nicht einloggte, konnte er auch nicht auf sie aufmerksam werden. Paula schaute auf ihre Uhr. Es war fast 21.00 Uhr. Sie wurde sich ihrer Einsamkeit bewusst. Der Raum war dunkel geworden, ohne, dass sie es bemerkt hatte. Sie dachte an Fynn. Wo er jetzt wohl war? Hoffentlich geht es i h m gut. Sie schloss die Augen, merkte, dass ihr das Schlucken schwer fiel und sie einen trockenen Mund bekam. Sie dachte an das Bild, wie der kleine weiße Sarg in die Erde gelassen wurde, in die tiefe dunkle Erde. Fynn hatte im Dunklen Angst, ihre Schwester ließ immer ein kleines Licht brennen. Und jetzt war er zwei Meter unter der Erde und es war absolut finster, kein einziger Lichtschein konnte zu ihm durchdringen. Rein gar nichts. Sie schüttelte den Kopf, unendliche Traurigkeit stieg in ihr auf, sie hatte das Gefühl, in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen. Die letzten Tage waren eine einzige Qual gewesen. Sie funktionierte rein mechanisch, Tag für Tag, von morgens bis abends, jede Bewegung führte sie instinktiv aus, ohne darüber nachzudenken. Sie konnte sich an nichts erinnern, was sie den Tag über getan hatte. Sie war einfach nur anwesend , lebte aber nicht. Sie konnte stundenlang vor sich hinstarren, konnte aber danach nicht sagen, worüber sie nachgedacht hatte. „Lass mich dir helfen“, hatte Anne gesagt und sie flehend angeschaut. Sie konnte einfach im Moment nicht sprechen, sie konnte ihr e Gefühle nicht formulieren, nicht in Worte fassen, dabei war es ganz klar, was sie fühlte: einen unendlichen, nicht wieder gutzumachenden Verlust, Trauer , Schmerz, sie vermisste Fynn. Es war, als ob ein Teil von ihr selbst gesto r ben war, als ob ein Teil von ihr aus ihrem Leben gerissen worden war. Sie atmete schwer und guckte wieder auf den Bildschirm. Sie sah , dass Lil sich eingeloggt hatte. Sie begrüßte kurz die Anwesenden, tauschte sich über die Neuigkeiten aus, Paula sah gar nicht genau hin, es drehte sich i mmer alles um das gleiche Thema: wann kann ich es wie tun. Aber sie hatte nicht unbedingt das Gefühl, dass es sich hier um die Realität drehte. Wollten sich diese Jugendlichen wirklich umbringen, wollten sie ihren Worten auch Taten folgen lassen? Sie war so erfüllt von ihrer eigenen Trauer, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass diese jungen Menschen sich ganz sachlich und kühl über ihren eigenen, baldigen Tod austauschen konnten. Sie riss sich trotzdem zusammen, sie meinen es ernst. Vier Jugendliche waren schon tot, sie wollte nicht einen Fünften auf dem Gewissen haben und dafür verantwortlich sein. Im Gegenteil, du musst das verhindern. Also schau genau hin, sei wachsam, mach jetzt keine Fehler. Vielleicht kannst du ein Kind retten, auch wenn du gerade ein anderes verloren hast. Sie las langsam Wort für Wort die letzten Zeilen auf dem Bildschirm durch. Wiederholte es noch mal, irgendetwas war merkwürdig, etwas ließ sie aufhorchen. Warum fand sie die Formulierung so anders, ganz anders als sonst. Sie las sich den letzten Satz von Lil noch einmal durch:
Lil:
Mir geht es gut heute. Ich wollte nur noch mal schnell vorbei schauen. Ihr schafft es auch.
Dann blieb sie stumm . Paula hielt den Atem an. Nein . Das klang wie ein Abschied. Bleib hier, rief Paula laut aus. Ruhig jetzt, bleib ruhig. Denk nach. Halt Lil auf. Irgendwie. Kurzentschlossen schrieb Paula eine persönliche Nachricht außerhalb des allgemeinen Chatrooms, eine Nachricht, die nur für Lil alleine bestimmt war.
Emma16:
Du klingst anders als sonst, so fröhlich. Geht es dir besser?
Lil:
Warum?
Emma16:
Ich mein nur. Alles gut bei dir?
Lil :
Ja.
Emma16:
Was ist denn der Grund? Mir geht es heute gar nicht gut. Ich fühle heute eine unbeschreibliche Traurigkeit in mir...
Paula hatte plötzlich das Gefühl, ihre wahren
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