Totgelesen (German Edition)
genauso wie damals als kleines Kind. Spät war der Winter heuer dran - Hauptsache, er war überhaupt noch gekommen.
Schweren Herzens betätigte er die Scheibenwischer. Die Flocken behinderten nicht länger seine Sicht, deshalb sah er eine Frau, die an der Tür, des Buchladens herumhantierte.
»Halt, warten Sie«, Specht sprang aus dem Auto und eilte auf sie zu.
Die dick eingemummte Frau drehte sich um und sah ihn mit verschlafenen Augen an.
»Wir öffnen erst in einer halben Stunde, so lange müssen Sie sich gedulden.« Mit diesen Worten knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Dicke Flocken sammelten sich auf seinen Schultern und seinem Haar. Er klopfte gegen die Glastür.
»Ich bin von der Polizei, machen Sie bitte wieder auf.«
Die Verkäuferin drehte sich um, bereit, ihn wieder wegzuscheuchen, sah dann aber seinen Dienstausweis, den er gegen die Scheibe drückte.
»Was ist denn passiert? Was wollen Sie von mir?« Zaghaft öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
»Ich brauche dringend einige Ausgaben von Andreas Beiels neuem Buch.«
Sie trat zur Seite und ließ Specht eintreten. Als er sich den Schnee von den Schuhen klopfte, meinte sie:
»Er hätte gestern seine Signierstunde hier abhalten sollen, aber er ist nicht aufgetaucht. Die Chefin überlegt, ob sie ihn überhaupt noch einmal einladen soll. Aber er ist nun mal der bekannteste Autor von Graz.« Sie deutete auf ein Regal, welches ausschließlich mit Beiels Werken bestückt war. Während Specht sich die Bücher genauer ansah, machte sie sich auf den Weg zur Garderobe, um ihre Jacke aufzuhängen.
»Wie viele Bücher von »Joggermord« haben Sie bisher verkauft?«, rief Specht der Verkäuferin hinterher und nahm eines der Bücher aus dem Regal, um sich das Cover genauer anzusehen.
»Die erste Lieferung ist meist nach zwei bis drei Tagen weg. Die da sind von der zweiten Sendung. Alles in allem haben wir sicher 50 bis 60 Stück verkauft.« Sie hängte ihre Jacke an den schmiedeeisernen Haken und tauschte ihre Stiefel gegen Hauspantoffeln.
»Möchten Sie Kaffee? Ich bin nur ein halber Mensch, wenn ich morgens keinen Kaffee bekomme.«
»Nein, danke.« Specht lächelte. Noch mehr Kaffee würde seine Müdigkeit auch nicht vertreiben. »Seit wann ist das Buch im Handel?«
»Vor zwei Wochen war die Präsentation in Wien.« Während sie sprach, verschwand sie in einen Raum, der anscheinend als Lager genutzt wurde. Um nicht durchs ganze Geschäft schreien zu müssen, folgte ihr Specht. Als er ins Separee kam, füllte sie gerade Kaffeepulver in die Maschine.
»Ist Ihnen unter den Kunden jemand aufgefallen, der sich sonderbar benommen hat?«
Die Dose mit dem Kaffeepulver rutschte der Frau beinahe aus der Hand. »Sie kennen seine Bücher nicht, oder?« Während sie der Maschine zusah, wie die heiße Flüssigkeit in die Kanne tropfte, sagte sie: »Mich wundert, dass das Blut aus seinen Büchern nicht unten raus tropft. Er beschreibt die Morde bis ins kleinste Detail, damit erzeugt er eine Welt, in der man seine perversesten Fantasien durchleben kann. Bei den Leuten, die solche Bücher kaufen, sind öfter welche dabei, die einem seltsam vorkommen. Ich würde sogar behaupten, mehr als nur seltsam.«
***
Es war halb fünf, als das Läuten der Haustür Beiels Gedanken störte. Für gewöhnlich interessierte es ihn kaum, was im Erdgeschoss vor sich ging. Es war die Aufgabe seiner Haushälterin Veronika, alle Besucher abzuwimmeln, Fans rauszuschmeißen und Vertreter fortzuschicken. Meist drang der Lärm nicht einmal bis zu seinem Verstand durch. Heute jedoch war er unkonzentriert und gereizt. Irgendetwas war anders. Irgendetwas störte ihn in seiner gewohnten Routine. Er war nicht ganz er selbst. Das musste er ändern.
Er schloss die Augen, versuchte sich auf seine Ausfahrt zu konzentrieren. Körperlich saß er in seinem Arbeitszimmer, aber mental war er in seinem Auto und brauste durch die Gegend. Er fühlte die Vibrationen des Motors in seinen Händen, sah die Autos, die an ihm vorbeizogen. Ein schwarzer Audi, ein roter Opel … die ersten Wagen mit Skiern auf dem Dach. Es war für ihn zu einem Ritual geworden, von seinen Ausfahrten zu träumen, wenn er ein Schaffenstief hatte. Eine kurze Entspannung und die Schreibblockade war gelöst.
Allerdings litt er heute nicht an einer Schreibblockade - eher an einem Konzentrationstief; zurückzuführen auf die schniefende Nase und die verschwollenen Augen, mit denen er heute Morgen aufgewacht war. Nicht, dass er
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