totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
mittlerweile geradezu gelassen gegenüberstand. Aber Sommer dabei zu assistieren, einem Toten den Mund zu verschließen, wie er es pietätvoll nannte, das überstieg meine Demutsgrenze um hundert Prozent. Überleg doch mal, wie die New Yorker Bestatter gerade an die Grenzen dessen kommen, was man gesunden Menschenverstand nennt! An manchen Tagen hasste ich meine vernünftige innere Stimme. Ehrlich. Wenn sie mir jetzt noch mit »Das ist immer eine Frage der Relation« kommt, bringe ich sie um. Und zwar mit dem Kauf von Knopfstiefeletten für 598 Mark. Da kann sie mal sehen, wo sie mit ihrem Gequatsche bleibt.
Ach ja, schön wär’s, Maggie, aber noch sitzt du hier in Bochum, und was dich gerade beschäftigt, ist die Vorstellung, was der Kugelfisch »da unten« mit den Toten so anstellt.
Er tackerte oder er nähte, so wie jetzt. Davon hatte ich mittlerweile schon viel zu viel mitgekriegt. Teils durch Sommers durch nichts zu bremsenden Dozierzwang, teils durch die bewusstseinserweiternde Lektüre der Bestatter-Vogue, die da postulierte: »Aus ästhetischen Gründen darf der Mund eines Toten nicht offen stehen!« Also haben Bestatter so ihre Tricks, dem allgemeinen ästhetischen Empfinden der Lebenden nachzukommen. Der Tacker hörte sich an wie ein Bolzenschussgerät. Der Nachteil war, man konnte sozusagen die Einschusslöcher sehen, sollten sich die Lippen nachträglich wieder öffnen. Die Aktion mit Nadel und Faden hinterließ keine sichtbaren Spuren. Nähen war auch fast geräuschlos, bis auf das Knirschen der riesigen, gebogenen Polsternadel, wenn sie durch den weichen Gaumen eines Toten gestoßen wird. Außer, Sommer fluchte dabei oder ließ Kinnladen klappern wie bei einer singenden Marionette, so wie er es jetzt gerade getan hatte. Das Allerübelste an Sommer war allerdings, dass er, wann immer er sich unbeobachtet fühlte, bei allem, was er tat, leise und unmelodisch vor sich hin pfiff. An manchen Tagen pfiff er wie ein kleiner Wasserkessel.
Auch nach Wochen fühlte ich mich in diesem Job definitiv als die größte Fehlbesetzung seit Marika Rökk in eigentlich jedem Film. Leichen waren mir schon immer unheimlich. Selbst bei meiner toten Oma hatte ich sekündlich damit gerechnet, dass sie sich im Sarg plötzlich aufrichten könnte und mich fragt, ob ihr Haar richtig sitzt. Ich hatte Oma dereinst auf Geheiß meiner Tante in ihrem Sarg zu fotografieren gehabt. Meine Tante hätte mir nie verziehen, wenn ich ihr diesen Wunsch abgeschlagen hätte. Man musste in dem winzig kleinen Aufbahrungsraum am Bochumer Zentralfriedhof nämlich auf einen Stuhl steigen, um überhaupt an einen vernünftigen Blickwinkel zu kommen, und da ich meiner Tante keine halsbrecherischen Klettereien hatte zumuten wollen, hatte ich es eben selbst gemacht. Vielleicht trieb mich aber auch nur die Angst an, dass Oma mir im Traum erscheinen könnte, um die fehlenden Fotos für ihr Himmelsalbum einzufordern. »Schauen Sie mal, Herr Petrus, das bin ich im Sarg. Sieht doch gut aus, oder? Ich hab’ mein blaues Lieblingskleid an.«
Und Petrus würde weise nicken und Oma schleunigst ins Omaparadies befördert haben. Wenn er schlau war. Sonst hätte sie ihm noch die peinlichen Fotos von Weihnachten 1969 gezeigt. Ich, dralle fünf Jahre alt, im rosa Petticoat, mit schokoladeverschmiertem Mund und verschwitzten Locken, grinse in die Kamera, weil ich mich so freue, dass meine Cousine sich nach dem vierten Königsberger Klops soeben unter den Gabentisch übergeben hatte. Meine Oma hatte im Omaparadies bestimmt viele Dönekes zu erzählen. Und wenn sie mir jetzt von oben zuschaute, kam sie wahrscheinlich aus dem Lachen nicht mehr heraus.
Zugegeben: Mein Job bei Pietät Sommer rettete mich fürs Erste vor dem Hunger, aber dafür konnte ich nun überhaupt nicht mehr schlafen, weil ich von Leichen träumte, die, während der Sarg in die Gruft herabgelassen wurde, Klopfzeichen von sich gaben. Schade, Tales of the Crypt hatte jemand anderer schon sehr erfolgreich geschrieben und produziert. Dummerweise hatte ich alle Folgen gesehen.
Ich hörte Sommer immer noch leise vor sich hin fluchen, und ab und zu ertönte ein unmelodisches Pfeifen. Ich beschloss, an meinem Schreibtisch sitzen zu bleiben, bis ich Feierabend hatte oder bis wirklich das Telefon klingeln würde. Bis dahin steckte ich mir eine neue Zigarette an, wartete auf das Erscheinen meiner persönlichen Fee und machte mir trübe Gedanken über das Weltgeschehen. Was sollte ich auch sonst tun?
Alles
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