totgepflegt: Maggie Abendroth und der kurze Weg ins Grab (German Edition)
zu schließen, bereiteten mir schweres Unwohlsein. Zu Anfang wurde mir sogar schon schlecht, wenn ich Sommer und Matti mit dem Wagen nur in die Hofeinfahrt einbiegen sah. Die beiden brachten garantiert nichts Spannendes, nichts Süßes und nichts zum Spielen mit.
Nach zwei Monaten bei Pietät Sommer kniff die Armani-Jacke auch gar nicht mehr so sehr. Aufgrund diverser Ekelattacken hatte sich meine unkontrollierte Nahrungsaufnahme von allein geregelt.
Da der Kugelfisch seinen Laden dank Herrn Matti und mir in sicheren Händen wusste, blieb er des Öfteren ganze Nachmittage lang weg. Ich mutmaßte, dass er seine Zeit nutzte, um lustig bei Kaffee und Kuchen im Altenheim zu sitzen, den Senioren von seinen beiden wohltemperierten Aufbahrungsräumen vorzuschwärmen und ihnen Eichensärge aufzuschwatzen.
Ich beschloss, Matti irgendwann mal danach zu fragen. Im Augenblick war aber keine Zeit dazu, denn Sommer riss mich mit seinem Gepfeife und Gefluche, das zu mir nach oben drang, unsanft aus meinen Tagträumen. Sollte er doch fluchen. Ich bin es gewohnt, mich an Abmachungen zu halten.
Dann klingelte endlich wirklich das Telefon, und ich hob erleichtert ab.
»Pietät Sommer, Sie sprechen mit Margret Abendroth, was kann ich für Sie tun?«, ließ ich meinen Standardspruch los. Ich hörte Schluchzer und dazwischen den Namen Becker und Feldsieperstraße 3. Ich versuchte, die Person zu beruhigen, aber es gelang mir nur insofern, als ich aus ihr herauskriegte, dass der Arzt schon da gewesen war, der Totenschein ausgestellt und man die Leiche jetzt bitte schleunigst abholen könnte. Zwischen den Schluchzern verstand ich noch: »Frau Dorffmann wartet schon auf mich.«
So, Frau Dorffmann wartete schon. Die Anruferin konnte nur eine Pflegekraft im Außendienst sein, die stundenweise bei einer alten Dame vorbeischaute und jetzt in Termindruck geriet, weil Frau Becker sich beim Sterben nicht an ihren Terminplan gehalten hatte, sondern soeben eigenmächtig und unangemeldet verschieden war. Ich versprach, so schnell wie möglich jemanden zu schicken. Zuerst versuchte ich es mit der Gegensprechanlage, aber der Kugelfrisch rächte sich an mir und antwortete nicht. Vorsichtig tappte ich die Treppe hinunter, bloß nicht zu weit, damit ich nicht in den Arbeitsraum hineinsehen musste.
»Herr Sommer«, rief ich, »es ist dringend. Feldsieperstraße 3, bei Becker. Die Pflegerin ist noch da, muss aber schnell weiter zu ihrem nächsten Job.«
»Ich kann jetzt nicht weg, Herrgott noch … wo bleibt denn bloß Matti? Ohne den …«, es ertönte ein lautes TACK, »… kann ich doch gar nichts machen …«, TACK, »… oder möchten Sie etwa mitfahren?« TACK.
Nein, wollte ich ganz bestimmt nicht.
»Wir können sofort fahren«, hörte ich Mattis Stimme hinter mir. Ich fiel vor Schreck beinahe die Treppe hinunter.
»Herr Matti, meine Güte. Wenn ich einen Herzinfarkt brauche, schaue ich mir lieber wieder CNN an.«
»Entschuldigung, Frau Abendroth.«
Matti sagte es ganz langsam und sehr höflich. Ich starrte ihn an, konnte in seinem hageren Gesicht aber keine Anzeichen von Ironie bemerken. Jetzt kam auch Sommer heraufgehastet, und so gab es einen kleinen Stau auf der Treppe. Ich drängelte mich an Matti vorbei und verschanzte mich hinter meinem Schreibtisch. Sommer griff sich sein Jackett, während Matti draußen bereits den Wagen startete. Dann fuhren sie mit dem Leichenwagen davon. Ich hoffte, dass sie die Stahltür fest zugemacht hatten. Natürlich traute ich mich nicht, wieder runterzugehen, um nachzusehen, ob eventuell die Leiche mit halb zugetackertem Mund im Aufbereitungsraum rumwanderte und zappelnd gegen die Wände stieß.
Ich lenkte mich von meinen Zombiefantasien ab und nutzte die Gunst der Stunde, um ungestört zu telefonieren. Es war wichtig, einen Zeugen am Telefon zu haben, wenn der taumelnde Zombie den Weg nach oben finden würde, und noch wichtiger war es, endlich wieder einen Termin bei Wilma zu machen. Einmal Friseur in zwei Monaten sollte wohl drin sein. Einmal Freundin in zwei Monaten auf alle Fälle. Ich war Wilma ganz bewusst aus dem Weg gegangen, nachdem sie mir, liebenswürdig wie sie war, beim Zusammenpacken aller Habseligkeiten in der alten Wohnung andauernd irgendwelche Devotionalien aus meiner Vergangenheit unter die Nase gehalten hatte, die ich schon dem Müll überantwortet hatte. Das waren so schöne Sachen wie: der Bleistift von John Lithgow, den er mir bei einem Seminar in Los Angeles geschenkt hatte;
Weitere Kostenlose Bücher